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Milvus @Milvus84
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Thread mit der Preisfrage:

War die Einwanderungswelle von 15/16 (“Welle“) im Einklang mit dem Gesetz?

Wer weiß es?

@Achgut_com ?
@Junge_Freiheit ?
@TichysEinblick ?
@dushanwegner ?
@Aquinate2 ?
@SiNetz ?
@COMPACTMagazin ?
@EpochTimesDE ?
Bis heute wird erbittert darüber gestritten.

Am Ende dieses Threads aber können Sie genau sagen, warum die Welle juristisch eindeutig gegen das Gesetz verstoßen hat und warum Merkel dennoch nicht verurteilt wurde.
Ursache des Streits ist die etwas verworrene rechtliche Lage aufgrund des Zusammenspiels von deutschem und europäischem Recht.

Mitverantwortlich sind aber auch weite Teile des etablierten Journalismus, die erkennbar nicht den Willen haben, diesbzgl. aufzuklären.
Nur mäßig überraschend ist, dass @PatrickGensing @tagesschau beteuert, dass die Welle rechtmäßig war:

archive.is/YgHrp

faktenfinder.tagesschau.de/inland/merkel-…
Kernaussage Gensings ist:

Merkel durfte das, weil aufgrund des europ. Dublin-III-Abkommens (“Dublin“) die Mitgliedsländer die Zuständigkeit für die Flüchtlinge über das

SELBSTEINTRITTSRECHT

freiwillig an sich ziehen dürften. Hierauf berufe sich Merkel noch immer.
Aber der Reihe nach. Maßgeblich ist NICHT Artikel 16a Grundgesetz, da hier nur bestimmt wird, welchen Personen Schutz gewährt werden MUSS. Nicht aber, welchen bzw wievielen Personen Schutz gewährt werden DARF.
Dreh- und Angelpunkt ist stattdessen §18 Asylgesetz, weil er Artikel 16a GG konkretisiert und zugleich die nationale Umsetzung von Dublin ist. Bitte einmal in Gänze lesen, weil es DIE maßgebliche Vorschrift ist:

gesetze-im-internet.de/asylvfg_1992/_…
Als “sichere Drittstaaten“ sind gemäß Anlage 1 des Asylgesetzes nur Norwegen und die Schweiz bestimmt, so dass Absatz 2 Nr 1 mit Blick auf die damalige Hauptroute der Welle über Österreich keine Rolle spielt.
Allerdings ist Absatz 2 Nr 2 einschlägig, da Dublin ein solcher völkerrechtlicher Vertrag ist und weil die Hauptroute der Welle auf dem Territorium der Mitgliedsländer stattfand.
Folglich müssen (!) Ausländer ohne Visum (unerlaubte Einreise, § 18 Absatz 3 AsylG) zurückgeschoben werden (Absatz 3), wenn nur der Verdacht (“Anhaltspunkte“, Absatz 2, Nr 2) besteht, dass Deutschland nicht gemäß Dublin zuständig (Absatz 2, Nr 2) ist.
Das aber war im Falle der Welle immer der Fall, da die wichtigste Regel, Artikel 13 Absatz 1 Dublin wie folgt lautet:
Wenn ... “ein Antragsteller aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.“
(Link zu Dublin:
eur-lex.europa.eu/legal-content/… )

Sprich: Der erste Mitgliedstaat mit illegal überschrittener Grenze ist für das Asylverfahren des Ausländers im Regelfall zuständig. Im Falle der Welle also Griechenland.
Zwar gibt es mehrere Ausnahmeregelungen zum Regelfall, doch der Regeltatbestand des Artikel 13 führt dazu, dass es im Falle der Welle immer (!) Anhaltspunkte dafür gab, dass Deutschland gemäß §18 Absatz 2 Nr 2 AsylG nicht zuständig war.
Die Bundesregierung hätte somit gemäß § 18 Absatz 2 Nr 2 AsylG mit Blick auf Artikel 13 Dublin jeden einzelnen Einwanderer der Welle zurückschieben müssen. Jeden. Ausnahmslos alle. So weit, so eindeutig.
An dieser Stelle wird von Befürwortern der Welle gerne angeführt, Deutschland müsse aber einreisen lassen, weil zunächst gemäß Artikel 20 Absatz 4 Dublin geprüft werden müsse, welcher Mitgliedstaat zuständig sei.

Dies ist eine Nebelkerze, siehe Artikel 20 Absatz 4:
“Stellt ein Antragsteller [...] einen Antrag auf internationalen Schutz, während er sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, obliegt die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Antragsteller aufhält.“
Kein Sterbenswörtchen zur angeblichen Einlasspflicht. Wenn die Bundesregierung nicht hätte einreisen lassen, was die Bundesregierung zugegebenermaßen (!) gedurft hätte, dann hätte Deutschland auch keine Pflicht zur Zuständigkeitsbestimmung getroffen.
Auch mit Blick auf die Zuständigkeitsbestimmung hätte die Bundesregierung somit die gesamte Welle an den deutschen Grenzen zurückweisen müssen.
Allerdings gibt es da noch den Artikel 17 Dublin, welcher den Mitgliedstaaten eine Ausnahme in Form des Selbsteintrittsrechtes gewährt. So kann ein Mitgliedstaat die Zuständigkeit über ein Asylverfahren an sich ziehen, obwohl er eigentlich nicht zuständig ist (Selbsteintritt).
Und exakt hierauf beruft sich die Bundesregierung. Artikel 17 Absatz 1 Dublin lautet wie folgt:
Abweichend [...] kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen [...] gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.“
Es ist klar, dass es sich hierbei nur um eine Ausnahme handeln soll und damit um wohlbegründete Einzelfälle. Allerdings ist dadurch zugleich auch eine unselige Debatte über das Ausmaß der Zahl der Einzelfälle eröffnet.
Merkel würde hier wohl sagen:

“Besondere Situationen erfordern halt besondere Maßnahmen.“

Und damit wäre die Debatte praktisch beendet. Wer möchte abstreiten, dass die Welle eine besondere Situation war?
Allerdings haben die Befürworter an dieser Stelle einen entscheidenden Knackpunkt übersehen, und zwar § 18 Abs. 5 AsylG:

“Die Grenzbehörde hat den Ausländer erkennungsdienstlich zu behandeln.“
Hierbei handelt es sich um eine Mussvorschrift, welche auch nicht durch europ. Recht relativiert wird. Es gibt hierzu keine Ausnahmeregelungen. Der Kommentar “Asylgesetz“, Luchterhand Verlag, 9. und damit aktuelle Auflage, unterstreicht die Eindeutigkeit dieser Muss-Vorschrift:
“Abs. 5 ordnet die zwingende erkennungsdienstliche Behandlung [...] an. [...] Die Behörde muss ausnahmslos bei allen Antragstellern [...] derartige Maßnahmen durchführen.“
Mit erkennungsdienstlicher Behandlung sind die Abnahme von Fingerabdrücken, Passprüfung, Fotoaufnahmen und dgl gemeint:

de.m.wikipedia.org/wiki/Erkennung…
Zuständige Grenzbehörde war und ist die Bundespolizei, welche im Herbst 15 tagtäglich eine 5stellige Anzahl von Personen auf diese Weise hätte überprüfen müssen. Dazu war die Bundespolizei schlicht nicht mehr in der Lage:
Folglich waren nur etwa 10% der Welle vom Gesetz noch gerade eben so gedeckt, weshalb allenfalls etwa 100000 - 200000 Einwanderer hätten aufgenommen werden dürfen.
Stattdessen geriet die Situation “außer Kontrolle“ (SpOn), weswegen der Ausdruck “unkontrollierte Masseneinwanderung“ die Lage am besten beschreibt. Dieser Kontrollverlust begründet zugleich die Unrechtmäßigkeit der Welle.
Spätestens bei der in Kauf genommenen Missachtung von § 18 Absatz 5 AsylG endet jedoch jedwede Diskussion über eine Rechtmäßigkeit. Somit definiert § 18 Absatz 5 AsylG eine Art Obergrenze, weswegen auch das Narrativ “Es gibt keine Obergrenze“ entkräftet ist.
Folglich hat die Bundesregierung von der Ausnahmeoption des Selbsteintrittsrechtes derart exzessiven Gebrauch gemacht, dass sie wohl mio-fach gegen § 18 Absatz 5 AsylG verstoßen hat.
Im Ergebnis ist die Frage der Rechtmäßigkeit juristisch nicht mehr diskutabel. Hier liegt m.E. eindeutig ein

RECHTSBRUCH

vor, weswegen im Gegensatz zu vielen anderen juristischen Streitfragen die vorliegende Frage entsprechend eindeutig zu beantworten ist.
Daran ändert im Übrigen auch die Schengen-Nebelkerze aus gleich mehreren Gründen nichts.

Denn Dublin (Regelwerk bzgl. Flüchtlingen an Grenzen) ist ein Lex Specialis im Verhältnis zum Schengener Grenzkodex (Regelwerk bzgl. Grenzen im Allgemeinen) und genießt daher Vorrang.
Weil das Asylgesetz die nationale Umsetzung von Dublin ist, hat es ebenfalls Vorrang gegenüber Schengen. Der Vorrang von Dublin ist ausdrücklich in Artikel 4 von Schengen fixiert.
Doch selbst wenn Dublin und Schengen gleichrangig wären, gäbe es keinen inhaltlichen Widerspruch. Schengen untersagt systematische (!) Grenzkontrollen, damit der Verkehr fließen kann.
Dublin verlangt Grenzkontrollen, damit zumindest eine erkennungsdienstliche Behandlung der Einwanderer stattfindet. Ergo war 2015 gefordert: Grenzkontrollen, welche den Kraftfahrtverkehr durchlassen, nicht aber die Kolonnen illegaler Einwanderer. Ein Leichtes.
Mit dem 13. September 15 war all dies zudem Makulatur, weil dann auf Antrag Deutschlands Grenzkontrollen wieder eingeführt wurden. Damit wurden die deutschen Grenzen gemäß Artikel 32 Schengen zu Schengener Außengrenzen. Deutschland hätte einen Zaun errichten können wie Ungarn.
Kurz: Der Verweis auf Schengen ist eine einzige, große Nebelkerze.
Es erging Anfang September 2015 eine Weisung des Innenministeriums an die Bundespolizei, wonach die Einwanderer der Welle ausnahmslos einreisen durften. Diese Weisung außergewöhnlicher Tragweite wurde, was recht ungewöhnlich ist, nur mündlich übermittelt.
Das ist ein starkes Indiz dafür, dass diese Weisung dem Innenministerium selbst nicht geheuer war. Zu Recht. So behält man als Innenministerium die Deutungshoheit über die Weisung. In meinen Augen ist die mündliche Weisung ein halbes Schuldeingeständnis.
Der Rechtsbruch ist auch gravierend. Denn durch § 18 Absatz 5 AsylG sollen auch Fälle wie derjenige des polizeibekannten Anis Amri verhindert und Menschenleben gerettet werden. Stattdessen sind hunderte, vielleicht sogar tausende Gefährder eingereist.
Eine intakte Demokratie bzw. ein funktionierender Rechtsstaat hätte angesichts dessen dazu führen müssen, dass Merkel noch im Herbst 15 ihren Hut nimmt. So jedoch ist den politischen und medialen Eliten ein Totalversagen zu attestieren.
Warum aber wurde Merkel nicht verurteilt?

Es gingen etliche Strafanzeigen ein, welche darauf abstellten, dass Merkel Schleuserei betrieben habe.
Diese jedoch mussten scheitern, da Grundlage für Schleuserei die “unerlaubte“ Einreise ist. Die Einreise war zwar rechtswidrig, wurde den Einwanderern von der Bundesregierung jedoch faktisch erlaubt.

community.beck.de/2017/06/11/die…
Die Einwanderer mussten daher den Eindruck haben, dass Ihre Einreise rechtens sei. Diese waren somit gutgläubig, weswegen Schleuserei nicht vorlag und Merkel auch nicht die Mutter aller Schleuser sein kann.
Andere, plausible strafrechtliche Tatbestände kommen m.E. nicht in Betracht. Insbesondere gibt es keine strafrechtliche Norm, die verwaltungsrechtliches Fehlverhalten unter Strafe stellt.
Auch fahrlässige Tötung zB kommt nicht in Betracht, weil es hier an einer direkten (!) Kausalität und damit an einer objektiven Zurechenbarkeit fehlt. Andernfalls könnten praktisch alle Menschen mit großer Verantwortung verhaftet werden.
Allerdings gibt es im Verwaltungsrecht die Möglichkeit der Organklage, wonach ein Organ der Bundesrepublik (zB Präsident, Mitglieder des Bundestags, Bundesregierung) ein Anderes verklagen kann, sofern Rechte des klagenden Organs von dem beklagten Organ verletzt wurden.
Eine solche Klage hat die AfD im April beim  Bundesverfassungsgericht eingereicht:

heise.de/tp/features/Af…
Leider fehlt in der Organklage der Verweis auf § 18 Absatz 5 AsylG. Die Organklage baut darauf auf, dass Rechte wie das Selbsteintrittsrecht nach Dublin als strenge Ausnahmeregeln auszulegen sind. Das aber ist diskutabel und nicht so zwingend wie der Verweis auf § 18 Abs 5.
Im Übrigen ist leider auch zweifelhaft, ob die Zulässigkeit dieser Organklage gegeben ist und ob insbesondere die 6-Monatsfrist ab Kenntnisnahme eingehalten wurde.
Es fehlt also - mit Ausnahme des laufenden Organstreitverfahrens - schlicht an einer Rechtsgrundlage, Merkel vor den Kadi zu zerren. Die Organklage selbst ist bzgl. der Begründetheit (Rechtsbruchfrage) aufgrund des fehlenden Verweises auf § 18 Absatz 5 angreifbar.
Ansonsten blieb der Verweis auf § 18 Absatz 5 in der gesamten, mittlerweile drei Jahre andauernden rechtlichen Diskussion nahezu völlig unbeachtet. Es gab meines Wissens nur einen einzigen Aufsatz, welcher den Verweis auf § 18 Absatz 5 AsylG in einem Absatz erwähnte:
achgut.com/artikel/profun…

Ich hege mit diesem Thread die Hoffnung, dass die Diskussion um die Rechtmäßigkeit mehr auf § 18 Absatz 5 Asylgesetz gelenkt wird. DAS ist der entscheidende Knackpunkt, der die Welle EINDEUTIG als Unrecht kennzeichnet.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

Gruß
Milvus.
Edit:

Sichere Drittstaaten sind gemäß § 26a AsylG neben Norwegen und der Schweiz auch die EU-Staaten.

Somit sind auch die Ermessensklauseln bzw Freiwilligkeitsrechte unter § 18 Abs 4 AsylG anwendbar. Nr 1 verweist auf Dublin, Nr. 2 auf eine humanitäre Ausnahme.
Dieses Ermessen ist jedoch im Rahmen von § 18 Absatz 5 AsylG auszuüben.

Das geschah jedoch nicht (s.o.).

Absatz 5 wurde systematisch verletzt.

Somit liegt auch bei dieser Variante fraglos ein Rechtsbruch vor.
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