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Da das Thema leider zu viel zu selten in antifaschistischen Kontexten stattfindet, folgt nun von uns eine Einführung zum Thema #Antiziganismus.
Bevor wir mit der Erklärung des Begriffes beginnen, eine kurze Einordnung des Begriffs selbst. Der Begriff Antiziganismus ist umstritten, da in ihm schon ein antiziganistischer Slur steckt.
Deshalb gibt es alternativ noch die Begriffe Antiromaismus und Gadje-Rassismus (Gadje ist ein Begriff für Nicht-Roma auf Romanes). Diese werden aus den verschiedensten Gründen aber auch teilweise kontrovers von Betroffenen gehandelt.
Wir haben uns für den Begriff Antiziganismus entschieden, da er die Fremdbeschreibung der Merheitsgesellschaft der von Antiziganismus Betroffenen betont.
Dies ist als Gegensatz zu verstehen zu den Selbstdefinitionen der kulturellen oder sich ethnisch verstehenden Gruppen wie Sint*ezza, Pavee, Rom*nja oder Jenische.
Was ist also Antiziganismus? Antiziganismus ist das Unterfangen der Merheitsgesellschaft bestimmte gesellschaftliche Gruppen und Individuen als homogen zusammenzufassen und auf sie eine antiziganistische Projektion vorzunehmen und nach ihr zu handeln.
Bestimmte gesellschaftliche Gruppen ist dabei bewusst offen gehalten. Das Ressentiment richtet sich primär gegen traditionell Romanes sprechende Gruppen wie Rom*nja oder Sint*ezza.
Es trifft aber auch traditionell nicht Romanes sprechende Gruppen wie Pavee, Jenische oder andere vermeintlich "unangepasst" Lebende.
Auf diese Menschen werden nun gewisse Eigenschaften projiziert. Kern von Antiziganismus ist, dass er von einer "parasitären", "schmarotzenden", "nicht-arbeitenden" Gruppe ausgeht.
Viele von euch werden bei diesen Stereotypen an Antisemitismus erinnert werden und Antiziganist*innen und Antisemit*innen haben auch eine sehr grosse ideologische Gemeinsamkeit:
Beide konstruieren eine hart arbeitende Mehrheitsgesellschaft, auf deren Kosten Jüd*innen bzw. von Antiziganismus Betroffene vermeintlich leben würden.
Es besteht aber auch ein klarer Unterschied: Von Antiziganismus Betroffene werden als besonders archaisch lebend wahrgenommen, als "eins mit der Natur" und würden so ihren Lebensunterhalt bestreiten.
Jüd*innen hingegen gelten in der antisemitischen Vorstellungswelt zwar auch als "Parasiten", allerdings nicht auf archaische Weise, sondern durch eine Überdehnung moderner Gesellschaftselemente, sie gelten also als "Wucherer", "Börsenspekulanten" oder "kontrollieren die Medien".
Eine genaue Beschreibung antiziganistischer Stereotype gibt die Betrachtung des Textes "Die Zigeunerfrage" des NS-Politikers Tobias Portschy.
Er beschreibt Deutsche und "Zigeuner" als entgegengesetze   Gruppen: "Gutes und Böses (...), Deutschtum und Zigeunertum sind einmal miteinander nicht zu versöhnen, sondern dauernd in Widerstreit".
Weiterhin beschreibt er "Zigeuner" als "archaische Parasiten": "Der Zigeuner ist ein reiner Schmarotzer; er sehnt sich nicht nach dem  Besitz von Grund und Boden, um ihn dauernd durch seine Arbeit zu  kultivieren (...).
Er wandert bettelnd und spielend von Dorf zu Dorf,  stiehlt dabei für das ihn Nötige auf den Feldern."
Ausserdem unterstellt er "Masslosigkeit beim Genuss von Alkohol" und "narkotische Verkommenheit".
Zusammenfassend: Er, stellvertretend für alle Antiziganist*innen, erstellt einen Katalog an primitiven Eigenschaften, die im Gegensatz zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft stehen und essentialisiert sie in von Antiziganismus Betroffenen.
Diese Ideologie führte dazu, dass Heinrich Himmler 1938 forderte “die Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus in Angriff zu nehmen”. Darauf folgte die Ermordung von nach Schätzungen 500.000 Sint*ezza und Roma*nja im Holocaust.
Da die Alliierten Roma*nja und Sint*ezza nicht als angehörige der Vereinten Nationen ansahen kümmerten sie sich nicht um die Abschaffung antiziganistischer Praxen deutscher Behörden und es besteht quasi kein Bruch im antiziganistischen Denken der Bevölkerung.
Dies führte u.a. dazu, dass Josef Eichberger, der bis 1945 im Reichssicherheitshauptamt  Hauptverantwortlicher der Deportationen war gleich nach 1945 im  neuen Bayerischen Landeskriminalamt Leiter der sogenannten  „Zigeunerabteilung“ wurde.
Ausserdem haben die Landeskriminalämter die nationalsozialistische Erfassungspraxis bis in die 1980er beibehalten, indem sie neben den Namen die Nummern und Kennzeichen (ein "Z") aus den Konzentrationslagern in ihre Datenbank übernommen haben.
Praxen dieser Art führen und führten dazu, dass Antiziganismus eines der am weitverbreitetsten und zügellosesten Ressentiments in der deutschen Mehrheitsgesellschaft ist.
Eine Emnid-Untersuchung ermittelte im März 1994, dass 68% der deutschen Bevölkerung keine „Zigeuner“ als Nachbarn wollten (zum Vergleich: 22% keine Jüd*innen und 36% keine Türk*innen).
Einer repräsentativen Umfrage des „Zentralrat der Sinti und Roma“ von 2006 nach gaben 76% der Befragten an bei der Arbeit, von Nachbar*innen, in Gaststätten oder an anderen Plätzen häufiger diskriminiert zu werden.
Europaweit betrachtet ignoriert Polizei systematisch Gewalt gegen Roma*nja und Sint*ezza
sueddeutsche.de/politik/diskri…
Die Projektion der "Nicht-Sesshaftigkeit" sowie der "archaische Parasitismus" findet sich auch kontinuierlich in den Äusserungen von Politiker*innen sowie sonstig öffentlichkeitswirksamer Personen.
Der Berliner CDU-Innenexperte Kurt Wansner äussert z.B. 2009 die komplett ressentimentbegründete Angst "wir [hätten] in aller Kürze sämtliche Sinti und Roma in der Stadt“ aufgrund von Sozialleistungen.
Ähnlich äussert sich 2014 die Migrationskommission der deutschen Bischofskonferenz: "Roma definieren [...] ‚Heimat‘ weniger als andere territorial oder national, sondern haben ihren emotionalen Bezugspunkt eher in ihrem (Groß-)Familienverband.
Sie sind daher mental und auch praktisch sehr beweglich; mehr als für andere Gruppen ist eine Wanderung auch über nationale Grenzen hinweg eine naheliegende Option zur Verbesserung ihrer Lebensumstände“
Die politischen Folgen solch einer antiziganistischen Diskursprägung sind divers: So kann das Ziel „Anreize für Migration in die sozialen Sicherungssysteme“ abzuschaffen aus dem Koalitionsvertrag 2013 klar als Ergebnis eines antiziganistischen Diskurses gesehen werden.
Die Unterbindung der "Armutszuwanderung" soll also verhindern, dass Rom*nja "weiterhin auf Kosten des deutschen Steuerzahlers leben".
Die politische Funktion des Antiziganismus innerhalb des Diskurses der "Armutszuwanderung" besteht also darin, zwischen einer legitimen und einer vermeintlich illegitimen Migration bzw. Flucht zu unterscheiden.
Desweiteren bekommen von Antiziganismus Betroffene Kinder in der Regel viel viel schlechtere Bildung und werden sowohl in Deutschland als auch in Europa insgesamt überproportional oft sowie grundlos auf Sonderschulformen geschickt.
Weiterhin findet extrem oft ein antiziganistisches whitewashing statt. Hättest du gewusst, dass Charlie Chaplin und Pablo Picasso Roma waren? Ausserdem ist z.B. Sidos Mutter Sintezza.
An dieser Stelle schonmal unsere Quellen, es kann aber gut sein, dass wir diesen Thread in Zukunft hier fortsetzen werden.
Keine Quelle, aber passend zum Thema:
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