Neun Jahre war ich alt. Schabowski in der Tagesschau, TV gab es nur bei den Großeltern in demselben Haus. Ungläubiges Staunen. Am nächsten Tag Trabi-Kolonnen vom nahen Grenzübergang Bergen/Dumme. Ich kannte die DDR ja von Besuchen bereits etwas, umgekehrt war alles neu.
Ich war in der vierten Klasse. Meine Dorf-Grundschule Schnega (~90 Schüler*innen) hat 1990 sehr früh einen Besuch einer benachbarten Schule in Henningen organisiert. Wir waren beeindruckt von Größe, Spielgeräten, Garten. Weniger vom Mittagessen.
noch Winter 1989 haben Bauern den Zaun (außen, innen) an ein paar somit neu geschaffenen Übergängen (alte Straßen) platt gemacht. Ich erinnere mich, wie an einem solchen gefeiert wurde. Meine Elterngeneration war öfter "drüben" feiern. Meist mit Schnaps, das Bier da taugte nix.
Es ging gefühlt sehr schnell, dass der Zaun geplündert war. Die Zaunelemente (so aufgezogener Stahl) fanden sich fortan in allerlei Gärten, als Hühnerbucht-Zaun, für selbstkonstruierte Komposthaufen etc.
Es hieß erst noch, dass da Minen lägen. Irgendwann hieß es, Räumpanzer seien durch. Später haben wir auf dem Grenzstreifen, der ein bißchen niemandem gehörte, Parties gefeiert, mit Lagerfeuer und Zelten. Die Wachtürme waren längst geplündert, die Scheiben zerdeppert.
1,5km Luftlinie bis zum ehemaligen Zaun. Die Dörfer auf der anderen Seite kannte ich dann alle schnell. Später, so ab 1996, war ich mobil. Und da rückten auch die Nazis in den Blick. Die gab es auch erstmal in der Nähe nur dort. Saufend, dumm. An der Bushaltestelle.
Die hat man dort machen lassen. Es war schon die Zeit des Wundenleckens. Dörfliche Gemeinschaften waren dort mit der Einheit zerstört, so denn überhaupt wirklich zuvor vorhanden. Ästhetisch fragwürdige (90er!) Einfamilienhäuser wurden gebaut.
Die Nazis sind am Wochenende auch mit dem Auto durch die Gegend gefahren. Einmal haben sie mich ne halbe Stunde durch ein Dorf verfolgt. Mit meiner 125er war ich im Straßenlabyrinth schneller, trotz Sozius. #baseballschlaegerjahre
Nach der Einheit war jedenfalls gefühlt mehr Unfriede, mehr Aggression da. Ob nun initial, als Reaktion, aufgrund neuer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen - als 10jähriger analysiert man da natürlich nicht so genau.
Da war dann z.B. 1990 Kevin (ja, wirklich) in der Klasse. Für mich war das recht bedeutungslos, für ihn aber wohl identitätsprägend: "aus dem Osten". Für mich kam er aus Molzen und fuhr daher mit einem anderen Bus zur Schule. Für ihn aber muss das Etikett schlimm gewesen sein.
Es gibt viele Anekdoten in den Dörfern, aus denen ich komme (ca. 2km Luftlinie bis zum nächsten Dorf in jetzt Sachsen-Anhalt). Sie werten Menschen aus der ehemaligen DDR nicht ab, aber sie werden aus West-Perspektive erzählt.
Die Einheit hat der Identität von Menschen weitere Dimensionen hinzugefügt, und manche noch mal unterstrichen. Das wird nie weggehen - wie es manchmal verlangt, gewünscht wird. Es kommt mehr darauf an, wie es erzählt, wie es tradiert wird.
Für viele war es ein Spektakel, wie ein Zirkusevent. Der perverse Reiz von Krieg, von Gewaltdarstellung - nur eben live vor der Tür und spannenderweise ganz ohne Gewalt. Wie einen skandinavischen Film gucken und am Ende sagen: ach, eigentlich auch so spannend wie Hollywood.
Danach war es allen wieder öd und langweilig. Vor der Einheit haben wir noch "die Wolke" gelesen und hatten Angst vor dem Atomkrieg, diese Angst mit diesem komischen Kitzeln. Die Einheit als kurze Unterbrechung von dekadenter Langeweile vielleicht. Passt zum 30. Jubiläum.
