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Holt euch einen Tee, nehmt euch Zeit, ich schreibe jetzt über #Depression #KeineSchande #LasstEuchHelfen und das wird ein langer Threat werden:

Es gibt Dinge, von denen hat man gehört, die ereilen höchstens andere, die braucht man nicht selbst.

Depressionen sind so ein Ding.
Ich habe viele Jahre viel geleistet, viel gegeben, viel weggesteckt, viel erlebt, viel mitgemacht. Viele Jahre ist das gut gegangen, ich konnte mich immer wieder erholen und wenn das Leben austeilte, habe ich zurückgeschlagen.
Schleichend änderte sich das: es gab immer mehr, das ich hilflos aushalten und hinnehmen musste und immer weniger Gelegenheiten entspannen zu können. Seien es 2 Jahre Nichtstun an der Arbeit mit ungewissen Zukunftsaussichten oder - das Schlimmste von allem...
... die chronische Krankheit meines Kindes, die uns lebensgefährliche, dramatische Episoden bescherte.

Letztes Jahr im Oktober fand ich mich als heulendes Häufchen Elend an meinem Schreibtisch im Labor wieder und nichts ging mehr.
Schon Wochen vorher habe ich eine Menge Wut und Aggressionen in mir aufgestaut, die immer mal überschwappten und sich mit Phasen lähmender Müdigkeit und Lethargie abwechselten. Man musste mich wirklich mögen, um mich aushalten zu können.
Da saß ich nun, heulte und fand kein Ende. Meine Kolleginnen versuchten mich zu trösten, aber alles, was ich hervorbrachte, war ein "Ich halte das alles nicht mehr aus!" und für die nächste Zeit war dies das bestimmende Motto.
Meine Hausärztin zog mich für 2 Wochen aus dem Verkehr und legte mir dringend eine Psychotherapie ans Herz. Die ersten Tage war ich nicht in der Lage zum Telefon zu greifen, um mich um eine Therapie zu kümmern.
Im Grunde lag ich hauptsächlich im Bett und war vollkommen ausgelastet damit, die Tage vorbeiziehen zu lassen und nicht zu implodieren. Atmen, Essen, Schlafen.

Dinge, die mir normalerweise viel Freude machten und bei denen ich entspannen konnte, gingen nicht mehr.
Einschlaf- und Durchschlafstörungen. Konzentrationsmangel, so dass ich keine 2 Seiten am Stück lesen konnte, ohne dass meine Gedanken abschweiften. Grübelzwang zu allen Tages- und vor allem Nachtzeiten. Frustfressen: frittiert, kandiert, alkoholisiert. Nähe - Nähe ging nicht mehr
Nach etwa 10 Tagen zuhause habe ich mich aufraffen können, zwei, vielleicht drei Telefonate mit Therapeuten am Tag zu führen. Hauptsächlich sprach ich mit Anrufbeantwortern, auf die ich Bitten um Rückruf flüsterte.
Ich erfuhr, dass Psychologen in aller Regel für Monate ausgebucht sind. Jeder, der nicht akut selbstmordgefährdet ist, muss bis zum Therapiebeginn mal locker ein halbes Jahr überbrücken. Wie? Das ist dein eigenes Problem. Diese Erkenntnis hat mich weit zurückgeworfen.
Dann hatte ich doch Glück, statt eines Anrufbeantworters eine lebendige Psychologin am Telefon zu haben. Die erklärte mir, dass ich vor einer Therapie 3 Therapeuten ausprobieren könne, dafür hat man jeweils 5 provatorische Sitzungen zur Verfügung und
solche Termine bekommt man meist recht zeitnah. Überweisung vom Hausarzt reicht und schon kann es losgehen.
Mein 1. Termin war bei einer Psychotherapeutin, die ihre Praxis mit einer Homöopathin teilte. Ihr kennt mich - dass ich dort war, sagt alles über meinen Gemütszustand aus.
Bei diesem Termin bekam ich das erste Mal die Diagnose "Depression" und die dringende Empfehlung, einen Psychiater aufzusuchen.

Ich war wild entschlossen, mir helfen zu lassen und hätte bei unserem örtlichen Psychiater schon 8 Wochen später einen Termin bekommen.
Kassenpatienten müssen eben mehr aushalten können als anständig Versicherte. Tatsächlich musste ich mir mehrfach die Nachfrage nach meinem Versicherungsstatus gefallen lassen und auf meine Erwiderung, ...
... dass ich leider nur zweitklassig versichert sei, rückten mögliche Termine in weite Ferne. Merke: Depressionen zeitlich besser planen.

Zum guten Ende fand ich einen Psychiater, bei dem ich innerhalb weniger Tage einlaufen konnte.
Der Herr Doktor hörte sich geduldig mein Anliegen an, erklärte mir dann sehr ausführlich was es mit Depressionen auf sich habe und wie man medikamentös nachhelfen könne, das Problem in den Griff zu bekommen.
Ich bekam ein Antidepressivum, das nach 2 Wochen Wirkung zeigte.
Die Wirkung war, dass ich wieder lebte und mich darüber freuen konnte.

Schlaf, der erholsam war und davon sehr viel. Klare Gedanken, Durchatmen können. Die Wut in mir wurde weniger. Essen um des Essens willen. Freude an alltäglichen Dingen. Normalität. Banalität.
Gleichzeitig erbarmte sich eine Psychologin meiner und schaufelte mir Platz in ihrem Terminplan. Sie gab meinem unaussprechlichen Gefühlschaos einen Namen. Sie half mir das ganze greifbar zu machen, unterstützte und bestärkte mich, als ich dachte, ich müsse vollkommen durchdrehen
Die Gesprächstherapie griff, ich konnte das Antidepressivum reduzieren und später ausschleichen. Nach 18 Monaten war ich wieder gesund. Ich bin sensibler mit mir, tue keine Dinge, die mir nicht gut tun, sich aber gehören.
Es IST schwer Hilfe zu finden, sich überhaupt einzugestehen, Hilfe zu benötigen. Das System macht es einem nicht leichter. Den Durchblick zu behalten ist nichts für schwache Nerven. Patienten von Psychiatern sind nicht Irre in Zwangsjacken, man trifft dort auf Menschen wie mich
und ich bin höchsten mittelprächtig durchgeknallt.

Antidepressiva machen nicht abhängig und sie bewirken keine Wesensveränderung; man kann weiterhin völlig selbstständig denken und entscheiden. Antidepressiva ersetzen keine Verhaltens- oder Gesprächstherapie.
Man muss ran an das schwarze Loch und das zu Fuß. Die Therapie ist anstrengend, aufwühlend, nicht immer angenehm, aber enorm hilfreich.

Inzwischen bin ich soweit, dass ich mit meinem Anliegen in die Öffentlichkeit treten kann. Es gibt viel mehr Depressive, als man denkt,
doch die meisten davon mögen nicht darüber sprechen.

Lasst euch helfen, wenn ihr betroffen seid oder glaubt es zu sein - je früher ihr Hilfe bekommt, umso besser sind eure Chancen, den Mist in den Griff zu bekommen.

Es lohnt sich! Ende der Durchsage🙂
Nachtrag - da steht "letztes Jahr im Oktober" und ich kann ja nichts korrigieren hier ... das ganze ist inzwischen 8 Jahre her, der Text selbst entstand während meiner Therapie, war quasi Teil meiner Therapie.
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