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[THREAD] Wie wurde vor knapp 100 Jahren über die Spanische Grippe berichtet – und wie findet man das heraus? Ein Recherche mit Beispielen.
Eine Suche in historischen Zeitungen auf anno.onb.ac.at liefert für „spanische grippe“ (die Anführungszeichen sind notwendig, um den genauen Wortlaut zu erfassen) in den Jahren 1918 & 1919 ungefähr 800 Ergebnisse. Das ist weniger, als man vielleicht erwarten würde.
Zeitlich verteilen sich diese Ergebnisse so, dass vor allem die zweite Welle der Epidemie im Herbst 1918 klar ersichtlich ist. Die erste (Frühjahr 1918) und dritte (1919) Welle zeigen sich kaum.
Aber Achtung: Das sind absolute Frequenzen! Vielleicht sind 1919 einfach weniger Zeitungen erschienen als 1918? Um eine genaue Aussage zu treffen, müsste man den Gesamtumfang der Daten kennen. Außerdem: Wurde wirklich immer von der „spanischen Grippe“ gesprochen?
„Pandemie“ liefert im gleichen Zeitraum nur 22 Ergebnisse, aber mit „Epidemie“ kommen wir der Sache schon näher: fast 1.600 Treffer. Die zeitliche Verteilung deckt sich mit „spanische Grippe“, also kann davon ausgegangen werden, dass tatsächlich diese Epidemie gemeint war.
Auch „Influenza“ liefert fast 1.000 Treffer. Hier fällt auf, dass der Begriff häufig in Fachzeitungen und -zeitschriften vorkommt, etwa die „Pharmaceutische Post“ oder die „Drogisten-Zeitung“. „Grippe“ allein liefert hingegen fast 4.000 Ergebnisse.
Man sieht also: Ein Suchbegriff allein reicht meistens nicht aus – auch wenn er offensichtlich erscheint! Es sollten immer auch Synonyme und verwandte Begriffe in die Suche miteinbezogen werden.
Eine gute Ressource, um Synonyme zu finden, kann durchaus der jeweils relevante Wikipedia-Artikel sein. In diesem Fall verrät der Eintrag außerdem, dass wegen der Zensur nicht über Opfer an der Front berichtet werden durfte – auch das muss bedacht werden. de.wikipedia.org/wiki/Spanische…
Soweit also zu den Zahlen und Suchergebnissen insgesamt. Wie kommen wir auf den Inhalt – also WAS & WIE berichtet wurde? Möglichkeit 1: Alles durchlesen. Umfassend, aber zeitaufwändig. Möglichkeit 2: Distance Search.
Mit der Distance Search kann man nach gemeinsam auftretenden Begriffen suchen, z.B. "epidemie wien"~10 für gemeinsames Auftreten dieser beiden Begriffe innerhalb von 10 Wörtern. So kann die Suche thematisch eingegrenzt werden – aber auch hier: Achtung auf die Suchbegriffe!
Die „Neue Freie Presse“ berichtet am 1. Juli 1918 u.a. aus Berlin und Paris vom Ausbruch der Spanischen Grippe, welche jedoch harmlos und bald vorüber sei.
Die „Innsbrucker Nachrichten“ zitieren am 28. Juni einen Artikel der französischen Zeitung „L’Œuvre“, in welchem die Frage gestellt wird, ob es sich in Paris um die eingeschleppte Influenza aus Spanien oder um Auswirkungen deutscher Giftgasangriffe an der Westfront handelt.
Beim Lesen fällt auf, wie ähnliche viele Berichte und Maßnahmen zur heutigen Situation sind. Die „Innsbrucker Nachrichten“ berichten am 10. Oktober 1918, die Epidemie steuere immer noch auf ihren Höhepunkt zu – Schulschließungen gibt es aber noch nicht.
Am 14. Oktober 1918 druckt das „Neue Wiener Journal“ einen Beitrag eines Mediziners ab. Vieles darin liest sich 1:1 wie heute, während anderes befremdlich wirkt. Soziale Isolation sei nutzlos, Aspirin wäre ein Heilmittel – es herrsche aber Aspirinknappheit.
Im Vergleich zum Sommer hat sich im Herbst die Berichterstattung aber merkbar geändert, fast täglich werden aktuelle Zahlen von Todesfällen aus verschiedenen Ländern vermeldet, und man hat den Ernst der Lage erkannt. („Innsbrucker Nachrichten“, 20. Oktober 1918)
Die „Neue Freie Presse“ am 2. Oktober 1918: „Nun stellte sich aber allmählich heraus, daß die spanische Grippe mit höchst polizeiwidriger Gleichgültigkeit über alle Grenzvorschriften und Einreiseverbote, über Sperre und Paßzwang hinwegvoltigiere…“
Die „Illustrierte Kronen-Zeitung“ druckt am 20. Oktober einen Erlass zur Schließung von Kinos und Theatern ab, findet diese Maßnahme „besser spät als nie“ und weist auf die Frage hin, was nun mit den Angestellten geschehe.
Zusammenfassend: Eine Recherche im Korpus historischer Zeitungen bei ANNO wirkt einfach, gerade bezüglich der Suchbegriffe muss aber aufgepasst & ein wenig herumprobiert werden.
Es zeigt bei diesem Thema vielleicht mehr als sonst, wie viele Gemeinsamkeiten zwischen historischer und aktueller Berichterstattung bestehen – in diesem Fall auch inhaltlich. Das Lesen dieser Berichte vermittelt ein seltsam vertrautes Gefühl.
Also: Gut, dass auch in Zeiten von #SocialDistancing via ANNO die historischen Zeitungsbestände der Nationalbibliothek durchsucht werden können. Bleibt’s daheim, blättert’s in ANNO und bleibt’s gesund!
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