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Noch ein Gesprächsauszug zur #Globukalypse:
"War das toll, als ich mit 20 zum 1. Mal ein Antibiotikum bekommen habe!"
"Ja! Und...SCHMERZMITTEL! Es gibt Schmerzmittel! Die WIRKEN!"
Wenn du dich mit anderen erwachsenen Kindern von Globukalyptiker_innen unterhältst.
Weil ich gerade an das Aufwachsen in der #Globukalypse gedacht habe, nachdem ich einen tollen Thread von @DGehirnwurm gelesen habe, ein eigener dazu:
CN #Kindesmisshandlung

Ich war als Kind zu 120 % Homöopathiefan. Was du halt so bist, wenn deine Eltern das auch sind und dir erfolgreich erklären, dass Schulmedizin ganz oft böse ist und Kinder krankheitsanfällig ohne Ende werden, wenn sie zu normalen Ärzt_innen gehen.
"Beweise" gab es reichlich: Die anderen Kinder waren ja öfter krank und länger krank als ich und beklagten sich öfter über Schmerzen.
Was für ein Wunder. Ich hatte im Grundschulalter längst gelernt, dass ich keine Schmerzen habe, sondern mir das "einbilde", und Kinder, die über Schmerzen jammern, Schwächlinge sind. Dann sagst du nicht, dass dir etwas wehtut.
Die ach so eingebildeten Schmerzen stammten übrigens von Misshandlungen. Vielleicht wäre das jemandem aufgefallen, wenn mich mal ein_e Pädiater_in lange genug gesehen hätte, um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen.
Stattdessen wurde ich vor der Schulmedizin "beschützt". Zu meinem "eigenen Besten". Als Kind glaubst du das. Als Kind möchtest du glauben, dass deine Erziehungsberechtigten dich vor irgendwas schützen wollen. Erst recht, wenn sie dich z.B. vor sich selbst nicht schützen.
Es gab Erkrankungspartys. Wozu mehr impfen als unbedingt notwendig, damit das Kind unauffällig mit auf Klassenfahrt kann?
Danke an mein Immunsystem, dass ich im Gegensatz zu anderen Kindern nicht im Krankenhaus gelandet bin.
Ich war sowieso selten krank. Weil, es gab Globuli, Schüsslersalze und andere tolle Dinge gegen ungefähr alles. Wenn das nicht half, musstest du eben zu Heilpraktiker_innen.
("Selten krank" sollte vielleicht in Anführungszeichen. Du bist nicht "seltener krank", wenn du misshandelt wirst. Du nimmst es nur irgendwann nicht mehr wahr, weil du nicht krank zu sein hast.)
Der Heilpraktiker und die Erziehungsberechtigten mochten sich. Gleiche Meinung zur Schulmedizin, gleiche Meinung zu allerhand anderem. Ich wurde nicht gefragt, warum ich das Problem habe, mit dem ich dort jeweils sitze. Stattdessen wissenschaftlich hochqualitatitive Erklärungen:
Der @DGehirnwurm hatte einen Wurm im Gehirn. Ich hatte einen im Bauch. Nein, kein Bandwurm. Energien und so, wisst ihr Bescheid. Die richtige Antwort wären vermutlich wiederholte, schwere Infekte gewesen, aber das bleibt Spekulation.
Was auch immer es war (unterwegs sogar mal Geisterbefall), es konnte nur entsprechend behandelt werden. Von kruden Diäten über Atemübungen und Beten bis dazu, was die Energien im Körper mir denn sagen wollen.
Es war ein wunderbares, geschlossenes System: Ich wurde misshandelt und hatte deshalb Schmerzen? Oh, ich musste nur herausfinden, was mein Körper oder irgendein Energiewesen mir eigentlich sagen will...
...und dann der Therapieempfehlung folgen und, ganz wichtig, ihrer Wirksamkeit vertrauen.
Was ist passiert? Irgendwann gewöhnst du dich so an Schmerzen, dass du sie nicht mehr wahrnimmst. Du bist das personifizierte schlechte Gewissen, weil das Symptom nicht weg geht.
Denn dann hast DU versagt. DU hast dich nicht genug angestrengt. DU hast gezweifelt.
Obwohl du daran glaubst. So sehr, dass du mit ca. 12 selbst in die Heilpraktik willst. Die Hardcore-Version, die du kennst.
Dass du aus der Schule nach Hause geschickt wirst, weil die Lehrkräfte dich für zu krank halten, um dem Unterricht weiter zu folgen, und dir sagen, dass deine Eltern dich zum Arzt bringen sollen? Die wissen nur nicht Bescheid. Das bisschen Blut.
Es hat funktioniert. Lange.
Bis ich im Krankenhaus gelandet bin.
Bis mir nicht mehr Blut abgenommen wurde, um krude Stoffe zu identifizieren, die es vermutlich gar nicht gibt. Sondern Mangelerscheinungen feststellbar waren.
Nachdem ich erwachsen geworden war, hat es noch eine ganze Weile gebraucht: Erstmal bin ich möglichst gar nicht mehr zu Ärzt_innen gegangen. Egal, was war. Ich war völlig planlos: Mit was für Problemen gehen Menschen zu Ärzt_innen?
Naja, Medikamentenverschreibungen. Aus dem Krankenhaus hatte ich eine Dauermedikation mitgenommen. Das ging. Keine Homöopathie mehr. Soweit war ich gekommen, nachdem ich im Krankenhaus angefangen hatte, Fachliteratur aus der Schulmedizin zu lesen.
Aber alles andere? Hm. Ich habe angefangen, andere Leute zu fragen. Wann gehst du zu deiner Hausarztpraxis? Würdest du mit Problem XY zu Ärzt_innen gehen?
Wenn es schwierig war, sich zwischen den unterschiedlichen Antworten zu orientieren, her mit der Fachliteratur. Und am besten ein paar statistischen Werten.
Inzwischen geht es. Meistens. Nach unheimlich vielen Büchern und dem Außenblick auf die Ansichten, die das #TeamGlobukalypse bekämpft.
Und ganz viel Traumatherapie.
Aber die Folgen sind da.
- Wenn Ärzt_innen anamnestische Fragen stellen, die ich nicht beantworten kann. Weil das vorausgesetzt hätte, dass ich irgendwann vor dem Krankenhaus als Kind gründlich untersucht worden wäre.
- Wenn ich nicht beantworten kann, wie stark Schmerzen sind. Das heißt, dass die Blasenentzündung dann eben erst bei Makrohämaturie auffällt, und ich danach nach ohne Labor objektivierbaren Faktoren suchen muss, um zuhause feststellen zu können, wann es Zeit für Praxisbesuch ist.
- Chronische Erkrankungen, die früher deutlich besser behandelbar gewesen wären, sind so, wie sie es eben sind, wenn sie bis zur Volljährigkeit vor sich hinexistieren können.
- Mein Immunsystem ist so gut drauf, dass ich gefühlt den Antibiotikakonsum nachholen darf, den ich in Prä-Krankenhauszeiten verpasst habe. (Nein, meine Ärzt_innen und ich halten das Zeug nicht für Smarties.)
- Ich konnte lange nicht beantworten, was für Erkrankungen mit hoher Erblichkeit in meiner Familie eigentlich vorliegen. Nicht: "Wir haben viel Diabetes.", sondern "Guck dir die Erkrankungen mit erblichem Risiko an und mach eine Strichliste pro Person 1./2. Grades.".
Das waren ja alles Einzelfälle. Vermutlich haben die nicht genug gebetet. Oder die falsche Potenz bei den Globuli erwischt. /sarc
- Der peinliche Moment, in dem ich in der Hausarztpraxis saß und mit längst volljährig erklären musste, dass ich irgendwelche Standardimpfungen brauche. Glück gehabt, dass die Ärztin mit "Impfgegner" etwas anfangen konnte.
Positive Resultate der Story? Du weißt genau, worüber du dich unterhältst, wenn du andere trifft, die möglichst fern der Schulmedizin aufgewachsen sind.
Und mein Job. Denn der hat was mit Gesundheit zu tun. Und gelegentlich auch was damit, Schwurbel als Schwurbel zu erkennen.
Warum ich das aufgeschrieben habe? Weil über die möglichen Motive und Folgen, Kinder von der Schulmedizin fernzuhalten, immer noch ziemlich wenig gesprochen wird.
Thread/Ende.
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