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Heute ein Thread über Wahlen im Sozialismus.
Allerdings: Das ist (natürlich) keine Aktualisierung. Thank God: Wir leben in einer liberalen Demokratie. Und trotzdem ist es interessant, sich die unterschiedlichen Funktionen von Wahlen zu verschiedenen Zeiten anzuschauen.
Warum sind Wahlen in der DDR interessant, wenn doch ohnehin ein Ergebnis von knapp ca. 97 % herauskommen würde? Warum wurde gewählt? Kaum jemand war so verblendet und glaubte im Ernst daran, dass hier das Volk *wählte*. Eher wirkten Wahlen in dieser Hinsicht delegitimierend🧐
Politische Wahlen in der Moderne sind multifunktional, von Beginn an. Eine wichtige Funktion ist ihre Fähigkeit, als Herrschafts- und Disziplinierungsinstrument zu dienen.
bpb.de/apuz/255958/wa…
Tatsächlich entwickelten Wahlen in der DDR ihren eigenen Sinn. Sie wurden zu einem Ritus der Selbsterniedrigung unter die Staatsgewalt. Sie schufen durch das demonstrative Einverständnis d Wähler/in & das manifeste „Gehorchenwollen“ (Max Weber) tatsächlich Macht u Legitimation.
In der Ostdeutschland wurde das 1937 in der SU installierte Wahlsystem übernommen. In Deutschland, wo die Bevölkerung in der Kaiserzeit für Männer und in der Weimarer Republik ein freies Wahlrecht gekannt hatte, war die Einübung schwierig und von Repressionen begleitet.
Die Wahlen 1946 waren schon flankiert von Verhaftungen u Verboten (knapp 50 % aller CDU-Ortsgruppen in der SowjetBesatzungsZone waren verboten). Und doch war das Wahlergebnis für die Machthaber eine Enttäuschung. Dazu die Forschung von Michael Bienert:
researchgate.net/publication/32…
Interessant ist, dass die Diktaturen des 20.Jhs nicht auf Wahlen verzichteten. Seit der Zeit um 1900 waren Wahlen zu einem Markenzeichen moderner, "zivilisierter" Staaten geworden, mit Setting zur Geheimhaltung: Urne, Wahlkabine, einheitl Stimmzettel.
academia.edu/25338056/_TRAN…
Es erschien im 20.Jh. offenbar auch Diktatoren wie Stalin oder Hitler schlicht nicht möglich, auf das moderne Legitimierungsverfahren von Massenwahlen zu verzichten. (Dazu von Ralph Jessen und mir:)
academia.edu/29004530/_mit_…
In Ostdeutschland empfanden viele Menschen das Prozedere und die angeblichen 99,7 Prozent Zustimmung zunächst als tiefe Demütigung. „Eine solche schamlose Erniedrigung hat nicht einmal Hitler zuwege gebracht“, hieß es in einem anonymen Brief an einenLandrat nach den Wahlen. Und.:
Thomas Lindenberger: In den ersten eineinhalb Jahrzehnten der SBZ/DDR ließe sich die „gewaltsame Auflösung im weitesten Sinne staatsbürgerlicher (oder neudeutsch: zivilgesellschaftlicher) Sozialbeziehungen und der soziale wie politische Widerstand dagegen" beobachten.
Bemerkenswert ist die Rolle der Kirchen bei den Wahlen in der DDR. Dort regte sich bis zuletzt Widerstand.
Bischof Ludolf Müller von der Kirchenprovinz Sachsen klagte, die Wahlen seien für die Geistlichen „eine der schwersten und bedrückendsten Gewissensentscheidungen“.
Der Sohn eines Predigers erinnerte sich später: „Mama, wie sie sich weigerte, zur Zwangswahl zu gehen. Papa verzweifelt: ‚Mein Amt! Es gibt nur Schwierigkeiten, wenn wir nicht zur Wahl gehen!’ Und ich dazwischen, ganz zerrissen innerlich, eine Mordswut im Leibe, Ohnmacht.“
1954 noch erklärte ein Pfarrer den Behörden, die Wahl werde noch „lange negative Auswirkungen unter den Menschen haben, weil sie nicht demokratisch war“.
Seit den 50ern bis 1989 funktionierten die Wahlen wie eine geölte Maschine.
--> Wie sahen die Wahlen konkret aus???
Eine „real-sozialistische“ deutsche Wahlfälschung war hoch komplex, ein organisatorisches Meisterwerk, das einer Vorlaufzeit von vielen Monaten bedurfte – und deren genau registrierte Ereignisse sich für einen Betroffenen bis ans Ende seiner Tage auswirken konnten.
Auf die (westliche) Wahlpraxis mit den Insignien der Geheimhaltung (Kabine, Urne etc.) konnte auch im Sozialismus nicht mehr verzichtet werden. Also gab es die Einheitsliste (wie im NS): Alle Kandidierenden auf eine Liste, die gesamt angenommen werden musste.
(Stimmzettel 1949)
Konnte man zunächst noch "Ja" oder "Nein" ankreuzen, sah die spätere Wahlpraxis nur noch ein Zettelfalten vor - und in die Urne stecken. DDR-Bürger*innen nannten daher Wählen auch "Zettelfalten".
Dazu die Monographie von Kloth: christoph-links-verlag.de/index.cfm?view…
@ChLinksVerlag
@ChLinksVerlag Die Wählerin betrat also das Wahllokal, bekam am Tisch den Stimmzettel, faltete ihn und steckte ihn in die direkt daneben stehende Urne. Die Wahlkabine war entweder gar nicht da oder stand weit entfernt. Sie zu nutzen wurde zunehmend zu einem Akt des Widerstands.
@ChLinksVerlag Die SED fälschte nicht einfach die Ergebnisse, sondern sie wollte tatsächlich, dass die Menschen wählten (und sich unterwarfen). Nichtwählen konnte sanktioniert werden. Oft musste darunter das (Haus-, Arbeits-)Kollektiv leiden, so dass man lieber auf den Eigensinn verzichtete.
@ChLinksVerlag ALLERDINGS: DDR-Wahlen waren ein neuralgischer Punkt, an dem das Regime in Kontakt mit der Bevölkerung trat. Interessant sind Wahlen nicht zuletzt deswegen, weil im Vorfeld gerade die kritischen Bürgerinnen und Bürger, die potentiell die Wahl verweigerten, Gehör finden mussten.
@ChLinksVerlag Die Geistlichkeit, bei der die SED-Obrigkeit grundsätzlich Widerstand befürchtete, erhielt die besondere Aufmerksamkeit der Wahlorganisatoren. Spitzenkandidaten wurden eigens dazu abkommandiert, um sich mit den Theologen zu treffen.
@ChLinksVerlag Die „Wahlgespräche“ zwischen Theologen und DDR-Staatsfunktionären erhielten eine wichtige Funktion: Hier konnten die Christen (in der Regel die führenden Kirchenleute) für ihre Wahlstimme einen Preis aushandeln. Fast alles konnte zur Sprache kommen –informell aber höchst konkret:
@ChLinksVerlag Die Kirchenleute versicherten zunächst, "ihr Vertrauen" der Einheitsliste zu geben. Dann (scheinbar unabhängig) wurde über Gegenleistungen geredet: Kirchenchorauftritte im Krankenhaus, Einreisegenehmigungen, Baugenehmigungen, Oberschulbesuch des Kindes etc. pp.
@ChLinksVerlag Auch in den Agitationsveranstaltungen für die normalen Bürger*innen konnten vor den Wahlen besondere Wünsche vorgetragen werden. Ein neuer Hausanstrich, eine Renovierung der Straße - alles mögliche konnte der Staat im Gegenzug für die Stimme bieten.
@ChLinksVerlag Geistliche wurden streng überwacht: 1970 ging die Meldung ein: „Es ist amtlich, dass Landesbischof Noth nach eigener Aussage nicht zur Wahl gehen wird.“ Zahlreiche andere Pfarrer im Bezirk verkündeten offen, es gebe in der DDR keine demokratischen Wahlen & keine Meinungsfreiheit.
@ChLinksVerlag Für die Wahlen fertigten die Staatsfunktionäre teilweise im Vorfeld Tabellen mit den Namen der Pfarrer und ihrer Ehefrauen an, bei denen die Wahlhelfer*innen nur noch unbotmäßiges Verhalten ankreuzen mussten: Nichterscheinen oder Wahlkabinennutzung.
@ChLinksVerlag Das Nichtwählen war für die Obrigkeit von jeher ein Problem. Wählen heißt grundsätzlich, die Legitimation des Staates anzuerkennen. Daher legte die SED so viel Wert auf die Teilnahme - und daher ergibt es in einer Demokratie so viel Sinn!!!
academia.edu/40220593/Desin…
@ChLinksVerlag Am Wahltag selbst stand für die Staatsfunktionäre die mühsame Arbeit des Überwachens an. Als Überwachungsinstanz gab es zahlreiche Institutionen, die Berichte verfassten: die staatlichen, kommunalen und die SED-Behörden, die Staatssicherheit oder die Wahlausschüsse.
@ChLinksVerlag Auch die Führung der Blockpartei CDU forderte ihre Kreisorganisationen auf zu melden, welche Geistlichen und Kirchenräte gewählt und wie sie sich verhalten hatten.
-> Die Predigten wurden teilweise am Wahltag ebenfalls überwacht und auf mögliche „politische“ Aussagen überprüft.
@ChLinksVerlag Bereits in den frühen Morgenstunden liefen in Berlin erste Telegramme mit Wahlinformationen ein. Ein früher Wahlgang galt als Zeichen der Loyalität. Im Laufe des Tages wurden die Informationen auf den neuesten Stand gebracht und jeweils an die nächste Ebene weiter gemeldet.
@ChLinksVerlag Zuletzt fassten Funktionäre die Informationen nochmals auf allen Ebenen zusammen und werteten sie aus. Jede Instanz wollte ein gutes Ergebnis (= hohe Beteiliung = hohe Zustimmung) – und so wurden die Zahlen von Instanz zu Instanz höher, bis sie in Berlin die knapp 100% erreichten
@ChLinksVerlag Am Abend liefen Wahlhelfer oft mit der Urne zu den Nichtwähler*innen.Zwar existierte in der DDR offiziell keine Wahlpflicht, doch ob Ausbildung der Kinder, Urlaubsreisen oder Einfuhrgenehmigung – die Nichtteilnahme konnte bei allen sich bietenden Gelegenheiten sanktioniert werden
@ChLinksVerlag Weitere Infos und Quellen zu Wahlen in der DDR finden sich in einer Online-Dokumentensammlung beim @bundesarchiv:
bundesarchiv.de/DE/Content/Vir…
Weitere Überlegungen und Forschungshinweise hier:
academia.edu/29004455/Mass_…
#Sachsenwahl
Sollte heißen @BundesarchivD !
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