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Es gibt eine große #Holocaust-Forschung (lange fand sie kaum statt - Raul Hilberg gehörte zu den wenigen Ausnahmen! -, wurde dann etwa seit den 80ern u. 90ern intensiv aufgenommen).
Ich will hier einige (altbekannte) Befunde bringen, die wohl besonderer Aufmerksamkeit wert sind.
Jedes 4. Opfer des Holocaust war ein Kind, 1,5 Millionen Kinder unter 14 Jahren. Viele Jüdinnen und Juden hofften, die Nazis würden die Kinder schonen, doch oft wurden sie zuerst ermordet.
(Was ich einfach nicht weiß: Ist es legitim, mit Bildern das Verbrechen zu verdeutlichen, oder werden dadurch die Opfer erneut entehrt? Hatte diese Frage mit @geierandrea2017 im @NMAAHC.)
@geierandrea2017 @NMAAHC Lange Zeit wurde der Holocaust als bürokratischer, industrieller Akt erzählt -> ein Mord mit einsamen Männern am Schreibtisch. Doch der Genozid war überwiegend ein Abschlachten: Deutsche und ihre Helfeshelfer quälten und töteten mit eigener Hand hilflose Menschen.
@geierandrea2017 @NMAAHC Im März 1942 lebten noch etwa 80% aller Holocaust-Opfer. Nur 11 Monate später lebten noch 20%. Der Großteil der Morde wurde auf polnischem Gebiet durchgeführt.
@geierandrea2017 @NMAAHC Die meisten polnischen Juden lebten nicht in den großen Ghettos wie Warschau, sondern in kleineren Ortschaften. Um sie zu identifizieren, zusammenzutreiben & zu ermorden (& oft noch systematisch zu berauben) sparten die Deutschen nicht mit Personal (und das mitten im Krieg).
@geierandrea2017 @NMAAHC Die Täter waren keine überirdischen Bestien, sondern "ganz normale Männer", wie Chr. Browning sie nennt.
@geierandrea2017 @NMAAHC Christopher Browning beschreibt ganz normale Polizisten (also keine altgedienten SS-Leute), die etwa mit eigenen Händen Kinder in den Wald führten und dort erschossen. Browning glaubt nicht an eine besondere Disposition der Deutschen zum Holocaust, und das ist sooo beunruhigend:
@geierandrea2017 @NMAAHC "Wenn die Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 unter solchen Umständen zu Mördern werden konnten, für welche Gruppe von Menschen ließe sich dann noch Ähnliches ausschließen?" Christopher Browning -->
Die Ablehnung von Sonderwegvorstellungen hat vor allem damit zu tun: dass sie viel zu bequem sind und das menschliche Ausmaß des Holocaust auf nationale Sonderheiten meinen reduzieren zu können.
Nicht alle hatten Freude an der Arbeit, einige verweigerten sich, viele machten mit, weil die Angst und der Druck groß waren. Wie sah eine typische Aktion aus? Zwei Zeitzeugen, die Brüder Rajak, beschrieben später einen Mord-Vorgang, von dem wir heute wissen, dass er typisch war:
Am 2. Juli 1941 marschierten deutsche Truppen in Glubokoje in Weißrussland ein. Sie zwangen die jüdischen Einwohner, sich zu registrieren. Juden wurden gequält, mussten Haustiere nachahmen, singen und tanzen, den Deutschen die Stiefel küssen. Sie mussten Zwangsarbeit verrichten.
Glubokoje, 22.10.1941: Alle Juden müssen in 1/2 Stunde in das Ghetto übersiedeln. Das Ghetto war völlig überfüllt, viele verhungerten. Zur Entlastung wählten die Deutschen einige 100 Bewohner aus und führten sie ins Umland. Dort:
Dort, so die Brüder Rajak, mussten die Juden an der Grube tanzen u jüdische Lieder singen; die Jungen mussten dann "die kraftlosen Alten u Invaliden in die Grube tragen und dort niederlegen", dann mussten sie sich selbst hinlegen, dann wurden alle erschossen (Weißrussland, 1941)
In den folgenden Wochen wurden Juden aus dem ganzen Umland in das zentrale Ghetto gebracht, regelmäßig fanden "Aktionen" zur Ermordung der Menschen statt. Säuberlich wurde der Besitz der Opfer (Wäsche, Kleidung, Schuhe, Hausgerät etc.) zum Raub gesammelt.
Zuletzt wurde das Ghetto "geräumt".
Die neuere Forschung bettet den Holocaust in das größere Geschehen ein und in die Radikalisierungsprozesse durch den Krieg (Hans Mommsen hatte auf die Zusammenhänge schon 1976 mit seinem Text über die "Kumulative Radikalisierung" hingewiesen) - ohne die Einzigartigkeit zu leugnen
Zum Kontext des Holocaust gehört der Mord an Menschen mit Behinderung (bei dem die Nazis viele Mord-Techniken erfanden und erprobten), der Genozid an den Sinti und Roma, der mörderische Krieg in der Sowjetunion --> und
Die Massenerschießungen der Juden ab 1941 vollzogen sich zusammen mit dem Massensterben von rund 2 Mio sowjet Kriegsgefangener durch Hunger u Seuchen. Der „Generalplan Ost“ der deutschen Führung beabsichtigte das „Absterben“ von 30 Millionen Slawen.
Wenig Anklang in der Forschung fand die These, es gebe eine direkte Linie vom kolonialen Genozid an den Herero u Nama (1904-08) bis zum Holocaust. Birthe Kundrus, Sybille Steinbacher u.a. betonen, dass die empirische Evidenz dafür zu schwach sei.
Noch zu den Tätern:
Die Tausende Direkttäter (meistens Angehörige der Einsatzgruppen, KZ-SS, Erschießungskommandos etc.) waren junge Männer und bei Kriegsende unter 30. 1975 befand sich diese Generation in der Bundesrepublik auf dem Höhepunkt ihrer zweiten Karriere.
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