Thread by @Riotbuddha

Heute vor 30 Jahren nahm ich so unauffällig wie möglich Abschied von meinen Freund*innen. Heute Nacht würden wir losfahren. Sobald es dunkel war, packten wir das Auto. mdr.de/zeitreise/stoe…

Im vergangenen Jahr hatten wir unseren gletscherblauen Trabant bekommen. Der war aber leider zu klein. Also tauschte meine Mutter ihn bei einem Freund gegen dessen roten Lada Nova ein.

Wir hatten diese Steckbriefbücher, Ziel war es, alle Freundinnen und Freunde in deinem zu haben. Ich hab wie immer zuerst nur wenig gesammelt. Dann hab ich losgelegt und alle müssten sich bei mir verewigen. Häufigste Frage: „Haut ihr ab?“

Ich hab das zwar immer wieder dementiert, aber ich gehe nicht davon aus, dass mir irgendwer geglaubt hat. Die Stasi Kinder musste ich auslassen. Das Risiko war zu hoch, dass die sich verplappern.

Mir war auch ziemlich klar, warum wir weg mussten. Meine Mutter hatte Kontakte zum Neuen Forum und sollte die bespitzeln. 2 mal weigern kam nicht so gut an und ein drittes Mal hätten sie sie so nicht gehen lassen. Knast für Mama und Heim für mich und meinen Bruder standen bevor.

Da klang Westdeutschland verlockender.

Als ich dann aus der Schule kam hatte ich mich von allen ins Wochenende verabschiedet. Wir wollten Freitag fahren, weil dann erst am Montag auffallen würde, dass wir weg sind. Außerdem hatte meine Mutter am Montag die nächste „Einladung“ beim MfS.

Der Rest des Tages bestand darin, auszusuchen, was ich mitnehme. Von all meinen Sachen musste ich mir ein! Spielzeug aussuchen. Von meinen Büchern 2 für die Fahrt und sonst nur Klamotten. Was man so braucht. Der Tag war furchtbar.

Kein Gedanke, auch nur eine meiner Platten, Brettspiele oder mein geliebtes Fahrrad mitzunehmen. Es war ein grünes Mifa Klapprad an das ich alle möglichen Extras gebastelt hatte.

Wir sind schon losgefahren, als es dunkel wurde. Irgendwann stehen Schilder in Richtung Bratislava, von dem ich in der Schule gelernt habe, dass es in der ČSSR liegt.

Auf den letzten 20-30 Kilometern vor der Grenze zur ČSSR stehen wir im Stau. Kurz davor standen Leute mit Transparenten am Straßenrand auf denen Dinge standen wie „Bleibt hier!“ u. „Wir brauchen euch!“ Wir fühlten uns aber nicht mehr sonderlich gebraucht und sind weiter gefahren.

Dann also Stau. Meine Mutter hat Geld ins Portmonee gesteckt und nen Stapel Scheine in Hygieneartikeln versteckt. Konnte ja keiner ahnen, dass die bald nicht mal mehr ihren Materialwert erzielen würden.

Zuerst also die DDR-Grenzer, die eigentlich kaum kontrollieren. Im Auto sind trotzdem alle nervös. Wahrscheinlich Unrechtsbewusstsein, weil wir gerade eine Straftat begehen.

Bei der Einreise in die ČSSR werden die Pässe gecheckt, dann wird weiter gewunken. Andere haben weniger Glück. Deren Karren werden komplett gefilzt. Ordnung muss sein.

Vor uns liegen die letzten 20 km unseres Lebens im „Real existierenden Sozialismus“.

Dann die Grenze zur BRD. Schilder weisen In Richtung „Nürnberg“ oder „München“ oder so. Von Nürnberg hätte ich in der Schule gehört. Reichsparteitage und so. Wir kommen also an die nächste Grenze.

Kein Stau, keine Schranken, keine Kontrollen.

Was Grenzer der BRD sein müssen, winken uns auf einen Parkplatz. Jetzt wird es wirklich seltsam...

Hunderte Autos stehen da schon. Alle, die dazu kommen und stehen bleiben, reißen die Türen auf und brüllen und tanzen. Ältere Damen klopfen an unser Fenster. Es dauert eine Weile, bis ich kapiere, dass die und MILKA Schokolade schenken wollen.

Ich kurble mein Fenster gerade so weit auf, dass die Schoki durch passt und murmle „Danke.“ bevor ich den Schlitz schnell wieder schließe. Aus dem Trabi hinter uns springen 5! Leute und leeren sofort den Kofferraum. Sie stellen zig Schnapsflaschen aufs Dach der Pappe.

„Die haben nur Schnaps mitgenommen!“ kaum zu glauben. Ich habe noch keinen Fuß aus dem Lada gesetzt als einer der Westbeamten mit einem Klemmbrett kommt, etwas in einer Liste sucht und etwas mit meiner Mutter bespricht.

Ich schlafe ein bisschen und bald sind wir auf der Autobahn nach Ingolstadt unterwegs. Da kommen wir offenbar in einer Bundeswehrkaserne unter.

Daran habe ich jetzt nicht die allermeisten Erinnerungen. War ne ältere Kaserne. Ich war seitdem nie wieder in Ingolstadt. Ich weiß noch, dass da wohl Pioniere stationiert gewesen sein sollen. Ich hab mich zuerst gewundert.

Disclaimer: Foto ist nicht von mir.

Der gesamte Thread spiegelt ausschließlich meine Erinnerung an die Nacht wieder. Es kann natürlich sein, dass Details anders waren. Alle Angaben sind ohne Gewähr.

In der Kaserne beziehen wir zusammen mit einer anderen jungen Kleinfamilie eine Stube. Darin ist Platz für 4 Etagenbetten und freier Boden um dorthin zu gelangen. Alles ist überfüllt und das Wort Privatsphäre gehört zu einer anderen Realitätsebene.

Die meisten sind einfach so wenig woe möglich da. Wir werden gebeten, das Kasernengelände so wenig wie möglich zu verlassen um eine möglichst schnelle Registratur und Weiterverteilung zu gewährleisten. Es gibt Sammelunterkünfte in ganz Deutschland. Wer Verwandte hat soll zu denen

Unsere Verteilung wird aber noch ein paar Tage dauern. Auf dem Flur sitzen jeden Abend betrunkene Menschen. Der Freudentaumel, im Westen zu sein weicht der Angst, was zu Hause noch alles passiert und der, wie es im Westen weitergeht.

Der 6.11.1989 war ein Montag. Hat mir meine Erinnerung wohl einen Dtreich gespielt.