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Jonas Schaible @beimwort
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Ich möchte die Diskussion um den Titel von @DerSpiegel und diese Erklärung zum Anlass nehmen, etwas loszuwerden. Im Journalismus gibt es die Idee des „Zuspitzens“. Ich halte sie für schädlich. Ich will erklären wieso. Und ich will eine Alternative vorschlagen. THREAD... /1
In der Branche ist es ganz normal, davon zu sprechen, etwas sei „zugespitzt“ oder „angespitzt“. Wir sagen: Spitz das noch ein bisschen zu! Meistens bedeutet das: Mach die These knalliger, greller, lauter, brüllender. /2
Das geht dann mitunter auf Kosten der Präzision. Wenn etwas zugespitzt ist, muss es nicht hundertprozentig treffen, kann übers Ziel hinausschießen. Aber nur so, reden wir uns ein, errege man Aufmerksamkeit. Nur so stoße man Debatten an. /3
Gibt es dann Kritik, antworten wir normalerweise: „Ja sicher, das war etwas zugespitzt, aber was wir meinten, war…“ Ich behaupte: Wenn wir das sagen, geben wir zu, dass wir unsere Arbeit nicht gemacht haben. /4
Und schlimmer noch: Wir geben zu, dass wir erwarten, dass diejenigen, die uns für unsere Arbeit bezahlen, unsere Arbeit für uns machen. /5
Was ist unsere Arbeit? Grob gesagt: Dem Publikum die Wirklichkeit so zu vermitteln, dass es in die Lage versetzt wird, sich dazu zu verhalten. Wir beobachten die Welt, wählen aus, formulieren um, gewichten, beschreiben, analysieren. /6
.@ConstSeibt hat mal geschrieben, die eigentliche Wahre des Journalismus sei „komprimierte Zeit“. Wir beschäftigen uns also lange mit einer Sache, die wir dann knapp vermitteln. Unser Publikum bekommt unsere Denkzeit. /7
Damit haben wir die Aufgabe, Dinge auf den Punkt zu bringen. Alles Unnötige wegzulassen, alles Wichtige hervorzuheben, uns von Spin und Phrasen zu lösen. Am Ende steht hoffentlich: die bestmögliche und vor allem klare Beschreibung eines Phänomens. /8
Dazu müssen wir verknappen. Weglassen. Gern auch Thesen wagen. Aber immer nur bis zu dem Punkt, an dem wir der Wirklichkeit noch gerecht zu werden glauben. Nie darüber hinaus – und genau das passiert beim Zuspitzen. /9
Wir wissen vielleicht, dass ein politischer Streit nicht „der große Krach“ ist, ein Ultimatum kein echtes Ultimatum, Deutschland noch nicht am Ende – aber wir schreiben es doch. Und rechtfertigen uns dann, indem wir sagen: ja, war zugespitzt. /10
Nein, wenn etwas verzerrt wird, ist es nicht zugespitzt, sondern verzerrt. Und verzerrt heißt: der Wirklichkeit nicht mehr gerecht werdend. Oder: falsch. /10
Wir schieben dann dem Publikum die Aufgabe zu, zu entscheiden, was *eigentlich* der Fall ist. Anstatt ihm so gut es geht, auf den Punkt eben, zu sagen, was unserer Ansicht nach der Fall ist. /11
Bleiben wir in diesem merkwürdigen Sprachbild selbst: "Zuspitzen“. Stellen wir uns vor, Journalismus habe die Aufgabe, einen abgebrochenen Stift wieder schreibfähig zu machen. Dazu muss er in den Spitzer. Man muss Schicht um Schicht abtragen, um den Kern, die Mine freizulegen/12
Wenn wir unsere Arbeit richtig machen, spitzen wir den Stift bestmöglich an, irgendwann hören wir aber auf, wenn wir unsicher sind, ob wir jetzt wirklich noch weiter drehen sollten. Dann haben wir ihn im Rahmen unserer Möglichkeiten bestmöglich auf den Punkt gebracht. /13
Wenn wir „zuspitzen“, so wie es im Journalismus verstanden wird, drehen wir weiter. Und weiter. Wir vermuten, dass es jetzt Zeit wäre aufzuhören, aber wir spitzen weiter. Irgendwann bricht die Mine. /14
Das Ergebnis: Der Stift ist kaputt. Man hat uns eine Aufgabe gegeben, und wir haben sie wissentlich falsch ausgeführt. Dann sagen wir: Sorry, ja, war etwas zugespitzt. Den Stift geben wir zurück. Jetzt muss jemand anderes Arbeit machen. /15
Muss selbst spitzen. Muss selbst entscheiden, wann er aufhören soll. Wo Schluss ist. Wir bürden dem Publikum unsere ureigene, unsere einzige Aufgabe auf, wenn wir zuspitzen. Wir bieten komprimierte Zeit und sorgen dafür, dass jemand noch mehr Zeit aufwenden muss. /16
Die Idee ist aber so verbreitet, so normal, dass niemand darüber nachdenkt. Wir glauben ja, dass wir dem Publikum einen Gefallen tun, weil wir Texte interessanter machen. Ich bezweifle nur, dass das so ist – oder so empfunden wird. /17
Ich glaube, wir würden uns und dem Publikum einen großen Gefallen tun, wenn wir uns von der Idee des „Zuspitzens“ verabschieden würden. Muten wir dem Publikum nicht zu, zu erraten, was wir wirklich meinen. Sagen wir es – möglichst präzise. /18
Ergänzung, weil das alles notwendigerweise vage bleibt, meine Testfrage an mich ist einfach: Wirklich? Also: wirklich jetzt? Wenn die Antwort kein überzeugtes "ja, wirklich!" ist, eher "naja also im Kern", dann ist ein Satz nicht mehr auf den Punkt, sondern zugespitzt.
Weil einige Reaktionen davon sprechen, es gehe da um sauberes Handwerk vs. unsauberes Handwerk. Ich glaube, es geht um unterschiedliche Vorstellungen davon, wie man das Publikum besser erreicht. Ich glaube: indem man (nur) sagt, was man meint, auch wenn das weniger scharf ist
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