Sollte mensch einen Verhaltensökonomen an prominenter Stelle über „Wie viel Lockdown ist ein Leben wert?“ schreiben lassen oder soll man es lassen? ⬇️zeit.de/2021/14/corona… Ein paar Gedanken zu diesem befremdlichen Text. 1/19

cc @econ4future_DE @PluralEcon @oxi_blog
Befremden löst vor allem aus, *wie* dort die Wertsetzung, -verrechnung usw. von „Leben“ unter das Publikum gebracht werden. Argumente? Ach was! Der Verweis, dass „wir“ das (Verrechnen) doch bereits machen, reicht. Weil etwas so ist, soll es also auch so sein? 2/19
Klingt nach naturalistischem Fehlschluss? Tja, ist auch einer. Noch nicht einmal verstohlen geäußert. Nein, völlig ungeniert von einem renommierten Verhaltensökonomen auf einem halbseitigen Artikel in einer großen Wochenzeitung ausgebreitet & gedruckt.🙄 3/19
Das ist bitter vor allem angesichts aller Relativierung & Zurückweisung, die @PluralEcon & andere erfahren, wenn sie mehr wissenschafts- & erkenntnistheoretische, (wirtschafts-) ethische usw. Grundlagen in der VWL-Ausbildung fordern. 4/19
Der Autor führt im Text das Trolley-Problem an, bei dem zwischen der Rettung einer Person o. der Rettung von mehreren Personen zu entscheiden ist, um zu illustrieren, dass die kateg. Achtung der Menschenwürde zum Tode mehrerer Menschen führt. Und das wäre, nun ja, nicht gut. 5/19
Nur handelt es sich dabei um eine Dilemma-Situation, für die es im Grunde keine „richtige“ Lösung gibt. Kurioserweise ließen sich selbst unter der vom Autor als „utilitaristisch-ökonomisch“ bezeichneten Sichtweise solche Dilemma-Situationen konstruieren. 6/19
Hinzu kommt: Angesichts von Corona können Ärzt_innen durchaus vor Dilemma-Situation stehen, in denen sie zwischen Menschenleben entscheiden müssen. Aber das ist eine völlig andere Situation als die der ökonomisch intendierten Frage „Wie viel Lockdown ist ein Leben wert?“. 7/19
Im Kern geht es bei der Frage nämlich nicht um eine Dilemma-Situation „Menschenleben vs. Menschenleben“, sondern es sollen Menschenleben gegen Gewinninteressen/Profit abgewogen werden. Das geht auch deutlich aus dem Titel des Beitrags hervor. 8/19
Zusammenfassend lässt sich dazu bereits sagen, dass die im Text angestimmte Trolley-Argumentation bei der Frage „Wie viel Lockdown ist ein Leben wert?“ in die Irre führt. Aber die Argumentation im Text wird noch befremdlicher. 9/19
Denn der Autor führt auch noch das Gedankenspiel eines von Terrorist:innen gekaperten Passagierflugzeugs an & versteigt sich dann abschließend zur Behauptung: „Den Wert des Lebens nicht verrechenbar zu erklären ist sympathisch und wird in Sonntagsreden auch gerne betont.“ 10/19
Und das ist in diesem Zusammenhang *sehr* mutig, wenn mensch sich einmal die Argumente aus dem Urteil des BVerfGs von 2006 zur *Nichtigkeit* der Abschussermächtigung im Luftsicherheitsgesetz Revue passieren lässt. 👉bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pre… 11/19
Aber gerade im Corona-Kontext, auf den der Titel des Beitrags abzielt, wäre auch die Expertise des Ethikrats ⬇️👉ethikrat.org/fileadmin/Publ… [PDF] zu berücksichtigen. Oder das, was Mathias Hong zu Menschenwürde, Verfassung & Triage schrieb. 👉verfassungsblog.de/corona-triage-… 12/19
Ist die Achtung der Menschenwürde also nur Sache von Sonntagsreden? Ganz sicher nicht. Wer die Fachexpertise, Verfassungsorgane, Wissenschaftler:innen etc nicht verächtlich behandeln will, wäre also gut beraten gewesen, sich mit Vorwürfen wie „Sonntagsrede“ zurückzuhalten.🤨13/19
Und allein das Urteil des BVerfGs *bei diesem Thema (Wert des Lebens) & dem obigen Aircraft-Hijacking-Gedankenspiel* so großzügig auszublenden, wie das der Autor im Text tut, das ist selbst mit sehr viel gutem Willen nicht mehr als Nachlässigkeit darstellbar. 14/19
In der Summe verhält es sich eben nicht so, wie der Autor schreibt, dass diese von ihm präsentierte „kalte Arithmetik der Ökonomen“ befremdlich & anstößig sein *mag*. Nein, sie IST es auch. 15/19
Der gesamte Text steht dann im Versuch, das Befremden & die Anstößigkeit dieser „kalten Arithmetik“ zu ‚normalisieren‘ & damit zu rechtfertigen, dass dies „letztlich nur wider[spiegelt], was wir ohnehin und jederzeit tun - das Leben bewerten.“ 16/19
Die im Titel des Texts gestellte Frage „Wie viel Lockdown ist ein Leben wert?“ steuert somit konsequent auf die Antwort zu, dass ein Lockdown so lange zu rechtfertigen ist, wie dadurch genügend als „wertvoll“ erachtete Menschen geschützt werden. 17/19
Schlussbemerkung: Mit dieser „utilitaristisch-ökonomische[n] Sichtweise“ ist eine Ideologie der Ungleichwertigkeit (#Heitmeyer) verbunden. Der Text liest sich als Versuch, diese zu normalisieren. Im Grunde liefert er daher ein Zeugnis „roher Bürgerlichkeit“. 18/19
Hier werden die regulativen Ideen prinzipieller Menschenwürde & Gleichwertigkeit von Menschen zur Disposition gestellt. Das ist der Kern, der in den Abwertungsformen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (Heitmeyer) steckt. Und das macht den Text äußerst problematisch. 19/19
Nachtrag: Sicher gibt es an dem Beitrag noch mehr zu kritisieren (vor allem Philosoph:innen dürften hier noch tiefer schürfen). Aber das überlass‘ ich gerne anderen Kolleg:innen.😉

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10 Oct 20
Ok, noch einmal ein paar Gedanken über die FAZ zu "Fratelli tutti" 👉zeitung.faz.net/faz/wirtschaft… (€). Denn der Text ist echt schräg. 1/15

Cc #econtwitter #Economists4Future @econ4future_DE @PluralEcon @popp5201 @AchimTruger @MakronomMagazin @oxi_blog @YouDidinVienna
Eingangs wird die Kritik von Franziskus an der Marktfixierung des Wirtschaftsdenkens kritisiert, weil Märkte doch die Probleme der Pandemie lösen können, um dann weiter unten im Text einzugestehen, das Märkte nicht alles lösen (was übrigens auch Franziskus schreibt)...🙄 2/15
Dazu kommt natürlich wieder das Argument mit der Armutsschwelle 1,90$, "unser" Wirtschaften (aka 'Kapitalismus') hätte doch Menschen aus der Armut geholt... Kein Hinweis, wie umstritten die 1,90$ sind. Und ich würde auch sagen, dass der Aussagehalt recht überschaubar ist... 3/15
Read 15 tweets
16 Jul 20
Die Ergebnisse sind interessant & werden zu Recht diskutiert. In der Darstellung & darin, wie „die Medien“ einzelne Punkte aufgreifen, stellen sich mir aber Fragen. So z.B. zum Punkt wöchentliche Arbeitszeit der Millionär:innen, die aus Selbstauskünften (!) gewonnen wurde. 2/21
Mensch könnte zB bei Angestellten nach abgeschnittenen Überstunden fragen; & ist Care nicht auch Arbeit. Wer hat den Millionären das Essen gekocht?😉

Aber davon ab: Kritisch sehe ich auch die Empfehlungen, die mir zu kurz greifen, zu unbedacht & politisch zu einseitig sind. 3/21
Read 21 tweets
14 Jun 20
Kleiner Nachtrag, weil @T_Waffenschmidt das Thema „Menschenbilder in der VWL“ ins Spiel brachte (). Es geht mE fehl, sich dabei auf die Kritik am homo oecnomicus zu beschränken. 1/9

cc #EconTwitter @MakronomMagazin @oxi_blog @nymoen_ole @EconJena @popp5201
Jedenfalls für mich ist zentraler, welches Bild in "der" Ökonomik von verschiedenen Menschengruppen vermittelt wird. Wie werden Arbeitnehmer:innen dargestellt? Wie wird über "Arme" & "Armut" gesprochen? Wie über Erwerbslose? 2/9
Und dazu lassen sich zB in Lehrbücher finden:
* Arbeitnehmer:innen, die lieber Freizeit konsumieren (Neoklassik) & gar nicht arbeiten wollen (Arbeitsaversion)
* AN & Bewerber:innen, die potenziell Arbeitgeber:innen betrügen (Agency-Theory) 3/9
Read 9 tweets
27 Apr 20
Jetzt lese ich öfters Tweets a la: „Der Corona-Lockdown gefährdet Arbeitsplätze, noch länger & das wird eine Katastrophe!“ Dazu ein paar Gedanken. (Achtung: Könnte Sozialökonomik & Plurale Ökonomik enthalten & etwas #economists4future.) 1/15
cc @EconJena @popp5201 @DominikPietron
Aktuell meint @N_Heisterhagen hier, ein längerer Lockdown würde 6 +x Mio. (Lohn-) Arbeitslose kosten, das könne nicht verkraftet werden. Und dann werden auf einmal gesundheitliche & ökonomische Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit entdeckt. 2/15
Dazu folgende Punkte:
1) Natürlich sind (Lohn-)Arbeitslosigkeit & negatives Wirtschaftswachstum nichts, was Sektkorken knallen lässt. @AchimTruger schreibt dazu⬇️ , dass ein früher (erfolgreicher!) Lockdown die Wirtschaftskrise nur teilweise abfedern. 3/15
Read 21 tweets
12 Apr 20
Hier das #NRW-Expert:innen-Papier, von dem aktuell zu lesen ist👉 ksta.de/blob/36547698/… [PDF]. (ht @tgrdebate )

Ich bin's überflogen & kommentiere "on the fly". 1/n

cc @popp5201 @DominikPietron @EconJena @zukunftsheld @AchimTruger @nymoen_ole @friiyo @SabineNuss @egghat
Auffällig ist:
Bereich Ökonomik...hm... könnte vielfältiger sein.🤨
AN-Vertretung fehlt mE auch.🙄

Laschet/#CDU hätte hier mehr Mut zur Sozialen Irenik von Müller-Armack (wie er es in der Sozialen Marktwirtschaft vorsah) gut zu Gesicht gestanden. 2/n
Das Papier bezieht sich nicht nur auf NRW, sondern will bundesweit gestalten. Dabei werden u.a. die ifo-Vorschläge aufgegriffen (Taskforce). Es klingt auch sehr ähnlich. 3/n
Read 16 tweets
3 Apr 20
@popp5201 Bins mal *überflogen* ifo.de/DocDL/Coronavi…
& gespannt, wie es nicht nur #Econtwitter diskutiert.

Kapitel 2 über Nutzen & Kosten, 2.1 Notwendigkeit & dann alles Kosten. Natürlich ifo-Horrorstudie von 35-48 Produktionsstillegung mit 10-20,6% des BIPs bei 3-Monats-Shutdown🙄 1/n
@popp5201 Unter dem Strich wirkt's wie eine Rechtfertigung des stufenweisen Endes der #Corona-Pause, die allerdings recht bemüht wirkt darin, es irgendwie nicht nach "aber die Wirtschaft" bzw. Primat der Wirtschaft klingen zu lassen. 2/n
@popp5201 Toller Tonfall ⬇️(S.21), insbesondere nach der rechtlichen Einschätzung u.a. hinsichtlich von Freiheitsrechten (wo von Grundrechtskosten die Rede ist... ). Menschenwürde taucht übrigens nicht 1 Mal auf, aber mehrmals Verhältnismäßigkeit.🤨 3/n
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