Das erste Mal nicht von Nazis verprügelt wurde ich im August '93. Da war ich ziemlich genau seit einem Jahr in Deutschland, 15j alt, hing nach der Schule mit Bosniern & Türken & Russlanddeutschen & deutschen Deutschen & einem Holländer rum an der ARAL in Heidelberg-Emmertsgrund
An dem Abend als die anderen, ich aber nicht, von Nazis verprügelt wurden, liefen wir – der Abend war so augustig geil warm – von der ARAL in die Weinberge und brachten uns gegenseitig bei, Bierflaschen mit Bierflaschen zu öffnen und übten Zungenküssen gegen Spiegel.
Es war in den Weinbergen eigentlich immer der gleiche kleine Garten, oder was, in den wir so ein bisschen einbrachen, wobei sich das nicht wirklich wie einbrechen anfühlte, weil wir nie was mitgehen ließen und das Tor einfach zu öffnen war.
Da gab es eine kleine Hütte fürs Werkzeug, eine Lagerfeuerstätte, in dessen Feuer unser Italiener, Pietro, mal besoffen reinrollte und danach viel viel besser als sonst aussah einige Wochen lang, bis die Augenbrauen und Wimpern wieder einiger Maßen hergestellt waren.
An dem Abend aber, als alle anderen, ich aber nicht, von den Nazis verprügelt wurden, konnten wir in "unseren" Garten nicht rein, weil da schon andere waren, vermutlich welche, denen der Garten gehörte, also wanderten wir los, deutsche Wanderlieder singend weiter richtung Leimen
Das stimmt nicht, keiner von uns konnte auch nur ein deutsches Wanderlied, das ist heute natürlich anders, wir sind alle inzwischen deutsche Staatsbürger, außer Sead, den hat man abgeschoben, und wenn ein Deutscher keine deutsche Wanderlieder kennt, ist er nicht wirklich Deutsch.
Wir fanden eine schöne Stelle, freie Sicht auf Leimen, Geburtsstadt von unserem Idol, @TheBorisBecker, wir tranken Leimener Bergbräu, das wie Boris leider irgendwann die Karriere einstellen musste, die Sonne ging kolossal unter, in unsrem Herzen Kameradschaft und Liebe hoch.
Und dann war es aber auch bald schon halb zehn, Sead, Pietro und ich mussten nach Hause, weil wir um zehn zu Hause sein mussten, Pietro wollte uns noch zum überreden bleiben, ich blieb standhaft und ging, die beiden blieben.
Das letzte, was ich hörte, war wie Michel, der Holländer, sagte: "Wenn ich Natur wäre, wäre ich am liebsten Weinberg". Und wie alle lachten, weil es total gut war, so was zu denken und auszusprechen mit dem Blick frei bis nach Frankreich.
Das war der gleiche Michel übrigens, der einige Wochen nach dem Vorfall, der gleich vorfallen wird, bei dem nämlich die Jungs von der Nazi-Meute überschwemmt und zusammengeschlagen werden, bei einer Polizei-Kontrolle auf die Frage: "Geboren?" mit "Ja" geantwortet hat. Ein Poet.
Ich war jedenfalls schon zu Hause als die Nazis von der Freude, Musik und dann Akzenten meiner Freunde – wie Motten vom Licht – angezogen wurden und das taten, was Nazis halt immer tun, wenn man sie lässt: Keine gesunde Kommunikationssituation herstellen.
Das zweite Mal von Nazis verprügelt wurde ich ein paar Monate später nicht auf der Neckar-Wiese in Heidelberg. Zu dem Zeitpunkt hatte ich meine erste deutsche Freundin, das Zungenküssen-Üben gegen den Spiegel hatte sich MEGA gelohnt gehabt also, wir saßen am Fluß herum und küßten
Wir waren Teil einer größeren Gruppe, zu der vor allem Freunde meiner Freundin gehörten, Jung-Hippies, Kunstgeschichte-Studenten in zweiundvierzigsten Semester, zwei Haustierschulterratten und eine leicht verstimmte Gitarre.
Es war ein total guter Abend, weil man nämlich so verliebt war, dass fast egal war, was man vor dem Küssen gegessen hatte.
Das Problem war, dass Nazis ja küssen nicht mögen. Das ist wirklich seltsam, dass es also keine talentierten Künstler gibt, die Nazis sind, dass Nazis keine guten Witze-Erzähler sind, und dass Nazis eben Liebe nicht ausstehen, wenn sie in ihrer Nähe stattfindet.
Unser Problem konkret war, dass die sehr interessanten grünen Augen meiner Freundin auch das Interesse eines Nazis geweckt hatten, der an ihrer Schule war, und der sie, trotz ihrer Lippen an meinen, an der Neckar-Wiese erkannte.
Ja, und dann grüßte er, und – das war schon bedenklich – er grüßte total nüchtern, fragte sachlich, wer der sei, also ich, und ich musste halt unbedingt in dem Moment mit meinem rollenden R und Grammatik-Fehlern meine wahre Identität herausgeben, statt zu sagen, Alois aus Bayern.
Das ist ja heute in Deutschland für mich ein bisschen die Rettung: Dass ich weiß bin und Mann und kaum mehr Akzent hab und ein Konto bei der Ethikbank und keine Kurzarmhemden und dass ich Spieler des HSV jederzeit aufsagen kann, so dass ich in vielen Lebenslagen gut zurechtkomme.
Damals am Neckar mit meiner deutschen Freundin und meinem Ausländer-Sein war das halt alles nur in Bruchstücken vorhanden, und als der Typ "So, so" sagte, da ahnte ich, was mir blühen könnte, wie @jensspahn englisch sprechende Bedienungen erahnt, bevor sie den Mund aufmachen
Und so geistengegenwärtig wie damals – als ich sagte, "Herz, wir jetzt gehen zu hause", war ich im Leben nur noch ein Mal wieder, als ich am ersten Tag in der Snowboard-Häschenschule in den Berner Alpen so tat, als wäre ich selber ein Snowboardlehrer, um der Schmach auszuweichen.
Die Hippies und Kunstgeschichte-Freunde wurden dann nur ein bisschen pro forma verprügelt von den Nazis, weil wer kann Kunstgeschichte-Studenten ehrlich weh tun wollen, nicht mal Nazis können das.
Das dritte Mal nicht von Nazis verprügelt wurde ich, weil ich letztes Jahr nicht zur Frankfurter Buchmesse gefahren bin.
