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Hedwig Richter @RichterHedwig
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Werde an der @UniHeidelberg eine Vorlesung über Globalgeschichte der Demokratie halten.
Dabei fällt mir auf: Es gibt eine populäre Demokratiegeschichte, die in vielerlei Facetten in der Forschung zu finden ist (wobei es selbstverständlich eine großartige, vielfältige historische Demokratieforschung gibt):
1) Demokratiegeschichte ist Revolution und Aufruhr. 2) Demokratiegeschichte ist Männergeschichte. 3) Demokratiegeschichte ist Ideengeschichte. 4) Demokratiegeschichten sind meistens national:
Z.B. das Mutterland der Demokratie USA (mit Revolution versteht sich) oder das Mutterland der Demokratie Frankreich (ebenfalls mit Revolution versteht sich). Oder: Das crazy-democracy-unfähige Preußen.
1-3 sind sicherlich richtig, aber lassen sie sich nicht ergänzen?
Theoretisch: Ist Demokratie zuvörderst das Wahlrecht (warum kann das Volk dann aber so oft damit nichts anfangen)?
Methodisch: Ideengeschichte ist wichtig, aber: Was bringt das Wahlrecht, wenn die Bürgerin nicht lesen kann? -->
Wenn sich der Bürger (wie bis zur Mitte des 19. Jh. nicht ungewöhnlich) an Hunger litt und seine Kinder im Elend starben?
Brauchen wir nicht eine Körpergeschichte der Demokratie?
Die übrigens auch zu einer Erklärung beitragen kann, warum Frauen, Afroamerikaner oder die meisten Menschen in den Kolonien so selbstverständlich vom Wahlrecht ausgeschlossen wurden.
Demokratietheorie sollte sich nicht mehr auf Platon bis Schumpeter beschränken, sondern den Blick weiten. Für Männer wie den Reformer Hardenberg, der sich gegen Körperstrafen einsetzte, oder
Frauen wie Helene Lange, Ida Wells oder Alice Salomon, die das Wahlrecht nur im Zusammenhang mit der Menschenwürde sehen konnten.
Die populäre Erzählung, am Anfang von Demokratie stehe Revolution, hat die Welt wohl nicht zuletzt Barrington Moore zu verdanken.
Bärtige, bewaffnete Männer prägen daher wesentlich die demokratiehistorische Ikonographie.
Okay, teilweise sind die Männer unserer Demokartie-Ikonographie auch ohne Bart, aber dafür in Waffen und sicherlich gewaltaffin.
Frauenrechtlerinnen in ihren langen Gewändern und mit ihren komplexen Gedanken über einen Wohlfahrtsstaat kommen dagegen kaum an.
Besonders problematisch erscheinen mir die nationalen Erzählungen. Die Idee von Deutschlands Demokratieunfähigkeit vor 1945 hält sich so zäh, dass kaum jemand weiß, wo die bedeutende International Woman Suffrage Alliance gegründet wurde: In Berlin, 1904.
Die Frauenbewegung ist ein gutes Beispiel dafür, wie transnational Demokratiegeschichte ist und wie wenig Sinn die Exzeptionalismuserzählungen oft ergeben.
Anita Augspurg ist übrigens eine extrem interessante und faszinierende Person. (Hier ist sie links im Bild mit ihren Freundinnen.)
de.wikipedia.org/wiki/Anita_Aug…
Zur Frauenbewegung gibt es hervorragende Literatur: Von Angelika Schaser, @IngridESharp über Kirsten Heinsohn bis Kerstin Wolff. Dieses Wissen müsste noch stärker in die allgemeine Demokratiegeschichte und -theorie einfließen, denke ich.
Zur den problematischen nationalen Sondererzählungen gehört es auch, die undemokratischen Seiten der Demokratiegeschichte in Frankreich, den USA oder U.K. auszublenden: etwa
dass in den USA das Parlament zu schwach war, um die Verfassung und damit das Wahlrecht der Afroamerikaner durchzusetzen.
Es ist bemerkenswert, dass historisch gebildete Personen mit Wissen über das Kaiserreich die Zabern-Affäre kennen, aber häufig nichts von den beeindruckenden Debatten im Reichstag wissen oder von der Weltfrauenkonferenz 1904 in Berlin gehört haben.
Zum Kampf für das Frauenwahlrecht kommt den meisten die Minderheit der gewalttätigen britischen Suffragetten in den Sinn - und nicht die große Mehrheit der friedliebenden Bürgerinnen und Arbeiterinnen, die sich dafür engagierten.
Wie @BirteFoerster bemerkt hat: Demokratiegeschichte lässt sich wunderbar mit Hayden White analysieren.
Übrigens, Hayden White ist vor wenigen Tagen gestorben.
nytimes.com/2018/03/09/obi…
Hayden White: “We require a history that will educate us to discontinuity more than ever before; for discontinuity, disruption and chaos is our lot.”
Demokratiegeschichte: Die Parlamentsprotokolle sind halt einfach umwerfend spannend. 19.2.1919
Wie der preußische Kriegsminister zum Ausdruck bringt: Die Gewalt zu Beginn der Weimarer Republik, die Missachtung der Körper trug wohl wesentlich zur Delegitimation des Staates bei. (Gell, @MarkWillJones!)
Apropos spannende Parlamentsprotokolle: Hier der Anfang der hinreißenden ersten Rede einer Frau im deutschen Parlament (19.2.1919):
Dass allein die Revolution das Frauenwahlrecht gebracht hat: Das war freilich ein historisch nicht ganz sauberes sozialistisches Narrativ, das die Leistungen der Frauenbewegung und die zivilgesellschaftlichen Aufbrüche vor 1914 ausblendet.
Noch zum Thema: Demokratie als Revolutionsgeschichte --> als Geschichte bewaffneter Männer, Paris, 1848
In der Bildbeschreibung des Musée de l'Historie Vivante heißt es zur 48erRevolution:
"Le suffrage universel ... exclut les femmes".
„Democracy is never a gift bestowed by benevolent, farseeing rulers who seek to reinforce their own legitimacy. It must always be fought for“ (Sean Wilentz @seanwilentz)
Is it? I doubt it.
Das Danton-Denkmal von 1891 (Paris) zeigt wie umstritten Demokratiegeschichte freilich immer war: Zählten bei Danton die Revolutionsqualitäten oder seine Bildungspolitik?
Klar, eine Waffe muss schon dabei sein, wenn es um Demokratie geht.
Das Denkmal verweist auch darauf, dass es in Frankreich einen starken antirevolutionären Diskurs gab.
Erlebte Demokratie als Revolutionsgeschichte ihren Aufschwung nicht erst mit der 68er-Revolution?
Bei den herkömmlichen Demokratieerzählungen vermisse ich ja besonders eine Figur wie den Freiherrn vom Stein.
(Hier von Schnorr von Carolsfeld porträtiert!)
Aber Stein oder Hardenberg bieten halt nicht so schöne Geschichten und Bilder wie Revolutionäre. Die sind fast so langweilig wie die Frauenrechtlerinnen mit Hut und langen Röcken. (Hier 1909 mit Augsburg unten rechts.)
Ist die Ukraine nicht ein Beispiel dafür, wie schnell wir selbst außenpolitisch in das Raster verfallen, die (gewalttätige) Revolutionslösung sei demokratischer? Links das Abkommen vom Februar 2014, das dann rasch von westlichen Demokratien ignoriert wurde.
Oder Syrien: Ich erinnere mich, wie eine Oppositionelle darauf drängte, die Wahlen vom Dez. 2011 mitzumachen. Stattdessen zogen die (bärtigen, bewaffneten) Männer gegen das Regime in den Kampf - und geschah das nicht unter dem wohlwollenden Blick westlicher Demokratien?
Syrische Freiheitskämpfer auf dem Weg in die Demokratie?
Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert immer wieder die gleiche Ikonographie.
Was führt eher zur Demokratie? Gewalt oder Reformen? Die Antwort ist natürlich schwierig, mindestens ambivalent. Der NS wurde mit Gewalt beendet. Aber ist das gängige Demokratienarrativ nicht zu sehr auf gewalttätige Transformationen fixiert? Auf Revolution eben? @HaraldWiester
Die Vorbereitung für die Vorlesung zur Demokratiegeschichte geht weiter. Was für ein Vergnügen.
Für die Demokratiegeschichte des 19. Jahrhunderts unverzichtbar: @thstockinger
Neu auf meinem Demokratie-Bildschirm: Josephine Hoegaerts @Singingarchives und das Schweigen. Und immer klasse: die Klarheit von @ChristophMllers.👇🏽
Demokratiegeschichte mit Reformern und Frauen :-). Sie berücksichtigt, dass die Installierung des Wohlfahrtsstaates wichtiger war als manche Revolution, die im Zentrum vieler Demokratiegeschichten stehen. So schreibt etwa die Historikerin Dawn Teele:
"Women’s suffrage increased social spending
in Western Europe, in the OECD countries, and in Switzerland,
and produced large changes in public health expenditures in the United States" (Dawn Teele).
From 1880 to 1910, the number of employed women tripled from 2.6 million to 7.8 Million in the USA.
-> What does this mean for women's suffrage? What for a history of democracy?
Zum Thema Ikonographie der Demokratiegeschichte: Mit der Statue von
#MillicentFawcett vor dem britischen Parlament wird eine Kämpferin für das Frauenwahlrecht geehrt. In Deutschland sind wir davon weit entfernt.
@Bundestag @katarinabarley
bbc.com/news/uk-politi…
Beschäftigung mit Narrativen (wie denen über Demokratie): Es geht nicht darum, sie von einer (zumeist moralisch) höheren Warte zu entlarven, sondern darum, sie zu analysieren und womöglich eine plausiblere Erzählung anzubieten. Charles Taylor: Wir brauchen die großen Erzählungen.
Preußisch-aufklärerische Wurzeln der Demokratie.
Kant zur Frage: Was ist Aufklärung?
Demokratiegeschichte, 19. Jh. Hedwig Dohm 1876.
"Entweder ist das Volk souverän und mithin auch die Frauen, oder Untertanen eines Herrn und Königs sind wir alle. Wir können nur zurück zur Despotie, oder vorwärts zum rein demokratischen Staat".
Aufsatz von @adam_tooze für unser Geschichte&Gesellschaft-Themenheft (Herbst 2018): Der Zusammenhang von Historizität und Demokratisierung, den sowohl Wendy Brown, Rosanvallon als auch @paulnolteberlin und @jkeaneSDN deutlich machen.
Auch Marcel Gauchet (der alte Modernisierungstheoretiker :-) verweist auf den Zusammenhang von Geschichtsverständnis und Demokratisierung: Die Loslösung von einem durch Religion geprägten Zeitverständnis sei essentiell gewesen.
M. Gauchet on "state, law, history": "It is arduous to keep together the requirements of the political form, the demands of the individual endowed with rights & the needs of future-oriented self-creation, to make them work in unison". Danke für Deinen anregenden Text, @adam_tooze
Introduction of Woman Suffrage.
(Dawn Teele: Forging the Franchise. The Political Origins of the Women`s Vote. Forthcoming 2018 @PrincetonUPress)
Francis Fukuyama considered "boredom" to be a serious threat to Democracy, a "dissatisfaction with liberty and equality": „the chief threat to democracy would be our own confusion about what is really at stake“.
Demokratiegeschichte als Körpergeschichte. Tatsächlich spielt die Abschaffung von Folter wohl eine entscheidende Rolle, wenn es um die Ermächtigung des Individuums geht.
Übrigens: Der schweizerische Kanton Glarus schaffte 1851 als letzte Region in Europa die Folter ab. Im Jahr 1782 wurde dort Anna Göldi als eine der letzten Frauen in Europa wegen Hexerei hingerichtet.
Für alle Freundinnen und Freunde Preußens: Friedrich Wilhelm I. schaffte 1714 de facto die Hexenprozesse ab, Friedrich II. 1740/1755 die Folter.
Das hat jetzt ziemlich lange gedauert für die Vorlesung.
Das Verhältnis zur Gesamtbevölkerung wird selten für die Wahlgeschichte benutzt. Ich finde diese Angabe präziser, weil sie nicht geschlechts- und farbenblind ist - wie etwa die gängige Angabe "Anteil an erwachsenen (weißen) Männern".
Wie alle Zahlen ist auch diese relativ problematisch. Sie berücksichtigt z. B. nicht, dass manche Gesellschaften mehr Kinder haben als andere oder dass POC in den offiziellen Statistiken oft nicht angemessen repräsentiert werden.
Der Frühneuzeithistoriker Peter Blickle hat in seiner Forschung stets darauf hingewiesen, wie wenig Sinn eine Geschichtsschreibung ergibt, die deutsche Länder von jeher auf undemokratischen Abwegen sieht. Dabei verweist er auch auf Rechtsgelehrten Johannes Althusius.
Allerdings gründet die Volkssouveränität von Althusius nicht auf dem Individuum. Vorstellungen von Gleichheit und individueller Würde, die alle inkludieren, können sich erst mit der Moderne durchsetzen. @RudolfStichweh spricht von den inclusion revolutions seit dem 18. Jh.
Interessant bei Blickle übrigens: Dass er wie selbstverständlich Mensch mit Mann gleich setzt. Ich finde die Frage, warum die Hälfte der Menschheit teilw. bis heute vorreflexiv ausgeblendet wird, zunehmend erkenntnisfördernd.
Lynn Hunt: Geschichte der Menschenrechte [und damit auch der Demokratie] ist nicht nur Ideengeschichte, sondern auch Geschichte der Gefühle und des Körpers.
Lynn Hunt:
"The very existence of human rights depends on emotions as much as on reason."
Lynn Hunt: "#Equality was not just an abstract concept or a political slogan. It had to be internalized in some fashion."
Demokratie bleibt ein utopischer Idealtyp. Robert Dahl spricht daher für die real existierende Demokratie über "Polyarchie".
--> Das Großartige an Wahlen: Sie ermöglichen die Fiktion von Demokratie. ->
Wahlen ermöglichen die Fiktion von Demokratie, sie bieten eine Performanz der demokratischen Utopie.
Zentraler Aspekt der Demokratiegeschichte: Zeit! Wichtig etwa: Wie lange dauern Wahlen? Um1900 wurde im nordatlantischen Raum ein Verfahren eingeführt, das den Wahlgang auf wenige Minuten beschränkte. Das trug womöglich dazu bei, dass sich die Praxis der Wahlen durchsetzen konnte
Wichtig außerdem: Menschen brauchen Zeit (Wohlstand), um Zeitungen besitzen und lesen zu können, um Politik zu diskutieren, um Wahlkampf zu führen etc.
Heute befürchten einige (z. B. Hartmut Rosa), dass Demokratie zu langatmig sei für das schnelle digitale Zeitalter. Iris Marion Young dazu: "Instituting a policy through democratically decided government may take a Long time and require Determination and continued mobilization."
Und (für die große Linie): Demokratie braucht viel, viel Zeit, um sich zu entwickeln. Hier nochmal das großartige Zitat von Habermas zum Thema:
Habermas: »...turning everyone into a potential reader, it took centuries until the entire population could read. Internet is turning us all into potential authors. Perhaps with time we will learn to manage the social networks in a civilized manner.« Quelle:
Zur Körpergeschichte der Demokratie: Wesentlich für demokratische Entwicklungen und die Implementierung von Menschenrechte war die Kritik an der Folter.
Die wirkmächtigste Kritik kam aus Italien. "Aber welches Urteil sollen wir über die Grausamkeiten fällen, die von der Tyrannei des Herkommens an Schuldigen und Unschuldigen verübt werden?“, schrieb der Philosoph Cesare Beccaria in seiner Schrift „Dei delitti e delle pene“, 1764.
Das war (natürlich) typisch aufklärerisch: Tyrannei des Herkommens!
Dabei gab es Kritik an der Folter schon lange, doch mit der Aufklärung wird sie richtig laut. Beccarias Schrift wird in 22 Sprachen übersetzt; Voltaire ist tief beeindruckt.
Besonders spannend erscheint mir: Wie viele Entwicklungen, die entscheidend für moderne Demokratie wurden, nahm auch die Kritik an der Folter ihren Ausgang als Idee von gebildeten Eliten.
Für die Massen waren öffentliche Quälereien ein beliebtes Spektakel. (Foucaults beeindruckende Eröffnungsszene in "Überwachen und Strafen" kommt einem sogleich in den Sinn.)
Der Pranger etwa (der anders als die Folter nicht der Ermittlung, sondern der Bestrafung diente), funktionierte nur, wenn die Männer und Frauen mitmachten und die Person am Pranger bespuckten, mit Steinen und Kot bewarfen.
Spannende (alte) Frage: Wie konnte sich die Idee durchsetzen?
Hier kommen die Körpergeschichte und die große Lynn Hunt mit ihren Gefühlen ins Spiel.
(Und mit der Körpergeschichte haben wir die ganze schöne, große alte Sozialgeschichte an Bord.)
Lynn Hunt: „Autonomy and empathy are cultural practices, not just ideas, and they are therefore quite literally embodied.“
-> Yey! Daher meine Körpergeschichte der Demokratie.
Bei einer Körpergeschichte der Demokratie fehlen nicht die Reizbaren Maschinen von @Philipp_Sarasin
Mit Aufklärung kommt Gedanke von der Machbarkeit des Körper. Sarasin fasst das neue Körper-Programm zusammen: "Was für einen Sinn hat das eigene Leben, was für einen Zweck haben politische Bestrebungen, wenn der Körper von Krankheiten gequält wird und vor der Zeit stirbt".
Demokratiegeschichte.
Über den Körper und die Empathie bei Lynn Hunt (beide zentral für eine Geschichte der Menschenrechte) bin ich auf meinen alten Germanistiklehrer Hans-Jürgen Schings gestoßen. Seine beeindruckenden Überlegungen zum Mitleid im 18. Jh.
Hans-Jürgen Schings und Lynn Hunt untersuchen beide die Bedeutung dessen, dass Empathie bzw. Mitleid im 18. Jh. eingeübt werden.
Ich denke, „Mitleid“ ist eine der Grundlagen für die neue Idee der Gleichheit (sagt Lynn Hunt) und für die entstehende Demokratie.
H-J Schings zum Mitleidsdiskurs im 18. Jh.: „Kann der Erfolg der säkularen Mitleids-Theorie im 18. Jahrhundert nicht als unübersehbares Signal für den bürgerlichen Ausgang aus theologischer und politischer Unmündigkeit gewertet werde?“
Schings: "Allenthalben, in der Moralphilosophie, in der polit. Theorie, in der Psychologie, in der Ästhetik erringt das Mitleid mit seinem Hof verwandter Begriffe wie Sympathie, ... Rührung, Zärtlichkeit, Empfindsamkeit" eine Schlüsselposition im Selbstverständnis der Aufklärung.
In diesem Buch verdeutlicht Schings, wie sehr die Revolution den Klassikern (Schiller, Wieland, Klopstock etc.) willkommen war, solange sie sich gegen den Krieg positionierte und für Freiheit stand.
sz.de/1.3617970
Weiter mit der Demokratie-Vorlesung. Nun, da Foucault anerkanntermaßen als outdated gilt, kann ich ihn ja nutzen.
Immerhin: Foucault ist in der Mitte der Moderne angekommen - und das offensichtlich nicht trotz, sondern wegen seiner Moderne-Kritik. Und er hat einiges zum Thema moderne Herrschaft zu sagen.
academia.edu/19342784/Heimt… via @academia
Foucault dreht ja das Aufklärungsnarrativ um und erzählt Aufklärung als düstere Geschichte der Disziplinierung. Er lässt sich aber seinerseits wieder ganz gut wenden: Disziplinierung war nicht zuletzt die Disziplinierung von Männlichkeit, eine Grundvoraussetzung für Demokratie.
Die Einhegung von Gewalt (-> Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols) war auch die Frucht der Gewalt-Inkompatibilität aufklärerischer Ideale. (So meine konventionelle Interpretation.)
Hier Kants wunderbarer, frecher Anfang von "Zum Ewigen Frieden".
Übrigens, dass "Staat" nicht "essentialisiert" werden kann, war auch Kant klar. 🙄
Wenig überraschend Kants "Erster Definitivartikel Zum Ewigen Frieden": "Die bürgerliche Verfassung in jedem Staat soll republikanisch sein." -> Frieden und Republik gehören zusammen.
So wird die Gewaltaversion der aufklärerischen Gelehrten verständlicher und ihr Entsetzen, als das revolutionäre Frankreich von Verteidigungskrieg auf Eroberungskrieg umstellte (-> H.-J. Schings)
Kant spottet in "Zum Ewigen Frieden" über die Ehrsucht, aus der heraus vielmals Krieg getrieben wird.
Kant. Und sowieso die Universität Königsberg, an der Adam Smiths Thesen gelehrt und damit den Preußischen Reformern bekannt wurden. Die Reformer trugen dann wesentlich zur Befestigung moderner Regierungspraxis bei: Abschaffung der Leibeigenschaft, Ankurblung des Wohlstandes etc.
Wohlstand war nicht zuletzt die Grundlage der sich ausbreitenden Bildung: Carl von Rotteck schrieb dazu 1846, dass man "in der Erfindung der Druckerpresse" und "der unermeßlichen Zunahme des literarischen Verkehrs" einen Ersatz für das "Forum und die Volkstribüne" sehen könne.
Rotteck widersprach damit der damals zuweilen vorgebrachten Behauptung, Demokratie sei keine Option, denn sie funktioniere nur, wenn ein großer Teil der Bevölkerung versklavt sei und den freien Bürgern ein politisches Leben ermögliche. Weiter schrieb er also:
"Belehrung in Bezug auf alle öffentlichen Angelegenheiten [wird] in das Haus des Bürgers gebracht" - das sei eine Bedingung dafür, dass "die allgemeine politische Freiheit, ohne die Sklaverei eines Theils der Bevölkerung, begründet werden kann“. Rotteck über Bildung & Demokratie
[Wenn wir eine Weltgesellschaft anstreben: Was wäre unser Medium, was würde unser Kommunikationsmittel sein? Denn Demokratie braucht einen gemeinsamen Kommunikationsraum - wie CvRotteck bemerkt.]
Wohlstand und Besitz stehen in einem intimen Verhältnis zur Demokratie.
Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts verlor sich die Vorstellung, nur "selbständige" Männer könnten ein freies Urteil fällen und nur sie dürften das Wahlrecht besitzen.
Noch 1849 bestätigte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten im Prozess Luther vs. Borden grundsätzlich Steuer- oder Eigentums-Qualifikationen für das Wahlrecht.
Atlantic Monthly 1879: „The men of brains are sure to have the bulk of the property in any country, and they are equally sure to become its only rulers if matters are ever carried to the last extremity“. Folgerung: Die Rechte der Wählermassen sollten beschränkt werden.
Bekannter ist freilich das preußische Dreiklassenwahlrecht: Dabei entschied die Steuerleistung nicht nicht nur auf Landesebene, sondern in noch stärkerem Ausmaß auch bei den Kommunalwahlen bis zum Ersten Weltkrieg über das Wahlrecht.
Der US-Bundesstaat Rhode Island war ein Extremfall, doch er zeigt, dass ein Zensuswahlrecht kein Tabu in den USA war: In dem Staat bestand bis 1928 eine Besitzqualifikation für WählerInnen.
Der Steuerzensus löste im 19. Jh. häufig die Bodenbesitzqualifikation für das Wahlrecht ab. Er führte einen oft übersehenen Paradigmenwechsel herbei:
Er war 1. von keinem ständischen Gedanken getrübt, 2. schrieb er das Wahlrecht dem Individuum zu, 3. zählte nur die Leistung des Individuums für den Staat; 4. verstärkte er die dynamische Kraft des Kapitalismus im Staatsgeschehen. Kurz:
Der Steuerzensus im Wahlrecht war im ganzen nordatlantischen Raum ein Meilenstein auf dem Weg zur Gleichheit.
Wobei in den USA die Bindung des Wahlrechts an die Steuerleistung in aller Regel (nicht immer) früher als in vielen anderen Staaten abgeschafft wurde. (Grafik aus Keyssar: The Right to Vote.)
Die Konzentration auf das gleiche Individuum ist im 19. Jh. von den Reformen und von einer effektiven Steuergesetzgebung nicht zu trennen.
#Demokratiegeschichte
„Der Freistellung des Individuums entspricht die allgemeine Personensteuer, der Freigabe der Gewerbe, die Gewerbesteuer, der Aufhebung der an Grund und Boden haftenden Eigenthumsbeschränkungen, die Grundsteuer“; und weiter:
Die „auf dem Gebiete der inneren Verwaltung sich Bahn brechenden Prinzipien des self governments finden bei der Steuerverfassung […] ihre Verwirklichung“.
C.F.W. Dieterici (preußischer Statistiker), ca. 1855
Da lässt natürlich Foucault grüßen.
#Demokratiegeschichte
Reading Klassiker Lipset (1959), wenn es um Wohlstand und Demokratie geht.
Demokratien sind immer wohlhabend, aber wohlhabende Staaten nicht zwangsläufig Demokratien.
Übrigens zeigt das Weber-Zitat sehr schön, dass Max Weber Deutschland selbstverständlich als Teil der freien Welt vor 1900 sah. Die unsterbliche Sonderwegthese, nach der Deutschland schon immer auf autoritären Abwegen wandelte, kam m. W. mit dem WK I auf.
Wenn dann die Grosstheoretiker nicht die Details des Wahlrechts kennen.
Das ist Lipset, dem entging, dass das Wahlrecht in UK extrem beschränkt blieb, während im Dt. Reich, auch in Preußen, das weite allgemeine gleiche Männerwahlrecht herrschte, das im Verfassungsalltag wichtiger wurde als das Dreiklassen-Länderwahlrecht in Preußen.
Im Nordatlantischen Raum dehnt sich das Wahlrecht in den 1840er Jahren auf etwa 20% der Gesamtbevölkerung aus.
Was womöglich noch wichtiger ist: In der Mitte des 19. Jahrhunderts gewinnen Wahlen für immer mehr Menschen an Plausibilität. Sowohl in Europa als auch in den USA steigt die Wahlbeteiligung auf 60 bis 70 Prozent, teilweise sogar auf über 80 Prozent. --> How comes!?
Warum wird aus dem Elitenprojekt Demokratie ein Projekt, dem sich weitere Schichten der Bevölkerung anschließen?
Das hat wesentlich mit der Idee der Nation zu tun. Mit dieser Idee können sich Männer und Frauen identifizieren.
Es entsteht ein gemeinsamer Kommunikationsraum, nationale Themen. Auch: ein "identity space" (Charles S. Maier). Maler zeichnen die nationalen Landschaften, Dichter besingen die Grenzen. Innerhalb der Grenzen gewinnt die Idee der Gleichheit an Plausibilität.
Hier etwa Caspar David Friedrichs "Das brennende Neubrandenburg" (ca. 1835)
In den USA war es etwa die Hudson River School, die mit neuem Blick den nationalen Raum vermaß.
Asher Brown Durand: Verwandte Geister (1849)
Typisch für den neuen nationalen identity space: "Die Wacht am Rhein", 1840 v Max Schneckenburger. Es entsteht, als die frz. Regierung die linksrheinischen Gebiete u den Rhein als „natürliche Grenze“ will.
(Lorenz Clasen, Germania auf der Wacht am Rhein,1860)
"Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
Wie Schwertgeklirr und Wogenprall:
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!
Wer will des Stromes Hüter sein?" etc pp
Die starken Jamben rissen die Menschen mit. Das Gedicht wurde mit der Melodie von Carl Wilhelm zu einer Art Nationalhymne.
Übrigens: Die erste Fassung der Melodie war für einen Männerchor. Nation, die Verteidigung der Grenzen, Demokratie/Partizipation - all das war männlich konzipiert. (Auch wenn die Frau selbstverständlich als Allegorie dienen kann.)
Die "Wacht am Rhein" zeigt die Ambivalenz des Nationalismus: Er inkludiert, schafft Gleichheit (und wird damit zur unverzichtbaren Voraussetzung von Demokratie) und wirkt zugleich aggressiv exkludierend.
Wunderbares Wikipedia-Schmankerl: "Die Melodie der Wacht am Rhein wurde auch für andere Lieder übernommen. Die Hymne der Dōshisha-Universität in Kyoto etwa; die Yale University verwendet die Melodie mit anderem Text unter dem Namen Bright College Years."
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