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Ich habe grade die Gelegenheit, viel mit Frauen um die 80 zu reden. (Bei Kaffee, Rosenthal und stattlichen Sahnetorten.) Und es ist unglaublich, was die aus ihrem Leben erzählen.
Ein Thread.
Die Lebensverläufe von Frauen aus unterbürgerlichen Schichten erscheinen mir besonders krass, aber auch bürgerliche Frauen hatten bemerkenswert wenig Chancen.
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Etwa G., 76 Jahre. Nach dem "Volksschulabschluss" fragte der Leiter eines christlichen Erholungsheims den Schuldirektor, ob er nicht "Mädchen" zum Helfen hätte. Mit 15 also: Putzen im Heim u bis in die Nacht Geschirrspülen. Ohne Gehalt, weil das irgendwie als "Ausbildung" galt.
Mit 16 schickte die verwitwete Mutter sie in einen großen Unternehmer-Haushalt für 1 Jahr. Immerhin mit Gehalt. Danach fragte der Hausherr die Mutter, ob sie nicht noch 1 Jahr länger bleiben könnte. Die Mutter stimmte zu. Sie selbst hatte auch jetzt keine Stimme.
Ihre Erinnerungen sind voller Scham, weil sie es "nie recht g'macht hat. I war halt auch blöd." Sie schämt sich, dass sie so lange dort geblieben ist. Die (verwitwete und resolute) Mutter erlaubte ihr nicht zu heiraten, weil sie eine Tochter für sich haben wollte.
Um näher bei der Mutter zu sein, begann sie in einer Fabrik zu arbeiten. Sie hatte zunächst Angst vor dieser Arbeit, aber sie blieb dort bis zur Rente, und sie hat gut verdient. Sie pflegte nebenher ihre erkrankte Schwester (Diakonisse) bis zu deren Tod und dann ihre Mutter.
J. hatte es leichter: Der gutbürgerliche Vater wollte, dass sie und ihre Schwestern eine Ausbildung haben. Studieren kam nicht in Frage (obwohl sie gute Schülerinnen waren und die Brüder selbstverständlich im In- und Ausland studierten).
Nach der Mittleren Reife war sie noch zu jung für ihren Traumberuf "Fürsorgerin". Sie musste zwischengeparkt werden. Aber als junge Frau bot auch sie eine gute Gelegenheit, aus christlicher und weiblicher Nächstenliebe für quasi nix zu arbeiten.
J. ging (ca. 1950) als Hilfe 1/2 Jahr zu ihrer Großmutter, Pfarrwitwe, die einen riesigen Haushalt führte; sie arbeitete hart, wurde schlechter als die Gäste behandelt. Es ist J. kaum möglich die hartherzige Großmutter zu kritisieren, aber in Nebenbemerkungen kommt es doch raus.
Apropos: Grade in bürgerlichen Familien scheint es bis in die frühe Bundesrepublik üblich gewesen zu sein, dass junge bzw. unverheiratete Frauen z.T. jahrelang im Haushalt von Verwandten aushalfen, ohne Lohn.
Danach war J. immer noch zu jung für den Traumberuf "Fürsorgerin", also lernte sie zwischendrin Krankenschwester, wo sie "wie der letzte Dreck" behandelt wurde, wie sie lachend erzählt. Schwesternschülerinnen in Tübingen lebten in Baracken, hatten oft Hunger.
Schönste Szene, die J. erzählt: die Visite (Anfang 50er Jahre, Uniklinik): Der Chefarzt als Gott und mit Zigarre an der Spitze, sie das Schlusslicht, das den Aschenbecher trägt. - Danach konnte sie ihre Ausbildung als Sozialarbeiterin machen; J. wurde in dem Beruf sehr glücklich.
B. hingegen war Handwerkertochter. Sie durfte keine Ausbildung machen, worunter sie ein Leben lang gelitten hat. Für ein Jahr kam sie nach Paris als Hausmädchen (wo sie schlecht behandelt wurde). Danach heiratete sie u wurde glückliche schwäbische Hausfrau (keine Ironie).
G., 81: Arbeite ein Leben lang als Putzfrau. Der Vater war Bauer und schlug sie. Keine Ausbildung (natürlich). Sie heiratete einen Mann, der "beim Daimler" arbeitete, viel trank und von dem ich heute weiß, dass er sie auch geschlagen hat.
Eine 85jährige erzählt mir von ihren Vettern und Basen und schenkt mir eine Kopie von deren Porträtfotos: 12 Geschwister, geboren zwischen 1910 und 1925, 5 Brüder sind im Zweiten Weltkrieg gefallen, ein geistig behinderter Bruder wurde bei der T4-Aktion ermordet.
Gespräch mit E., über 90jährig. Die NS-Zeit kam also ins Spiel. E. war begeistert beim BDM, ging aber auch in die kirchliche Jugendarbeit. Das wurde verraten & E kam vor eine Art HJ-Gericht: Warum sie neben dem Führer einen Gott brauche? E.: "Der Führer ist ein Mensch."
Das war's für die Nazi-JugendführerInnen. Der Führer ein Mensch?! E. wurde aus dem BDM gestoßen. Dafür blieb sie bei der Kirche. Als sie 18 war, war der Krieg zu Ende, und sie (Unternehmertochter) konnte zwischen Medizinstudium und Diakonie wählen. Sie blieb bei der Kirche.
E. arbeitete einige Jahre als Diakonin in der Württembergischen kirchlichen Jugendarbeit (u.a. mit Gudrun Ensslin, die sich sehr engagierte). E. heiratete, bekam Kinder, blieb weiterhin ehrenamtlich aktiv und hatte dabei höchste Positionen wie den Vorsitz im ARD-Programmbeitrat.
Über "das Dritte Reich" reden alle Gesprächspartnerinnen abfällig, oft mit ironischem Ton. Offenbar erwähnen nur diejenigen den NS explizit, die eindeutig negative Erfahrungen damit hatten.
U.s Eltern gehörten zu jenem Kreis an Württembergischen Pfarrhäusern, die Jüdinnen und Juden versteckten, indem diese reihum als Gäste in den Pfarrhäusern wohnten. U. erzählt, ihre Schwester durfte kein Abitur machen, weil sie nicht im BDM war. U. machte nach dem Krieg Abitur.
U. wünschte sich innigst, Medizin zu studieren, doch der Vater (Dekan) hatte viele Kinder. Studieren konnte nur der Sohn; zudem wurden die Studienplätze ohnehin für die Kriegsheimkehrer freigehalten; Frauen waren nicht gern als Studentinnen gesehen, erzählt U.
U. lernte MedizinischTechnischeAssistentin & wurde damit sehr glücklich. Ihre Schwester, die im NS kein Abi machen durfte, erlernte keinen Beruf.Sie arbeitete beim Vater im Dekanat. Wie viele unverheiratete Frauen half sie immer wieder jahrelang in der Großfamilie aus, erzählt U.
N. (85jährig) erzählt, sie habe als Mädchen doch gar nicht gewusst, was sie machen soll. Weil eine Tante Direktorin einer Haushaltsschule war, kam sie dorthin. K., 74jährig, sitzt dabei und sagt: "Wir wurden doch alle nicht gefragt, was wir wollen. Auch die Brüder nicht." ->
N wurde Hauswirtschaftsleiterin -ohne Freude. Wie andere Gesprächspartnerinnen entschuldigt sie sich danach: Sie habe so viel geklagt, so viel über sich geredet & überhaupt. Der Modus vieler dieser Frauen, die so viel geleistet haben: Selbstbezichtigung, Selbstzurücknahme, Scham.
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