Warum meine "Heimat" mich für immer verloren hat. #baseballschlaegerjahre #Ostdeutschland #Provinz
Ein Thread.
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Die Tankstelle am Ortseingang war ein beliebter Nazitreff. Es war der einzige Ort an dem es 24/7 Bier gab. Ich musste jeden Tag daran vorbei. Es fing an mit Sprüchen. "Zecke!" "Geh schneller, sonst kriegst du was!" Die Angestellten freuten sich über die treue Kundschaft.
Ein Tages fuhr mir einer der "Tanke-Nazis" mit dem Motorrad hinterher und trat mir im Vorbeifahren in den Rücken. Auf meinem Rucksack war ein "Nazis raus!" Aufnäher. Als ich auf dem Boden lag, hörte ich Beifall.
Meine Schule lag im Neubaugebiet. Hier wohnten viele Nazis. Mein täglicher Schulweg führte durch "ihr" Gebiet. Die gesamte Region galt in der rechten Szene als "national befreite Zone". Ich kannte die gefährlichen Hausnummern und lernte Umwege.
Nach der Schule stand ich mit etwa 10 Mitschüler*innen vor dem Schulhof als zwei stadtbekannte Nazis mit Kampfhunden auf mich zu kamen. Einer riss mich an den Haaren zu Boden und schlug mir ins Gesicht. Der andere lachte mich aus. Alle sahen zu. Auch Lehrer. Niemand tat etwas.
Drohanrufe. Das Festnetztelefon meiner Eltern klingelte eine Zeit lang regelmäßig. Nahmen meine Eltern ab, wurde aufgelegt. Nahm ich ab, wurden Botschaften übermittelt. "Wir kriegen dich!" Die städtische Polizei zu den Vorfällen: "Da können wir nichts machen."
Mit 17 fuhr mich meine Mutter fast jeden Tag zur Schule. Ich war oft eine Stunde vor Schulbeginn auf dem Schulhof, da der Job meiner Mutter früher begann als mein Unterricht. Aber lieber eine Stunde auf dem Schulhof warten als durch das Nazigebiet laufen zu müssen.
Der Jugendclub im Ort zeichnete sich durch das pädagogische Konzept der "akzeptierenden Jugendarbeit" aus. Konkret hieß das: die Nazis konnten ungestört ihre Macht demonstrieren. Dazu gehörte u.a. auch, mit 20 Mann vor dem Club zu stehen und "Zecken" einzuschüchtern.
Während einer Privatparty im Jugendclub rückten sie an. Mit Stangen, Baseballschlägern und Ketten. Erst standen sie da und lachten. Dann suchten sie sich jemanden aus. Und schlugen zu. Die Polizei kam nach Stunden als alles vorbei war. Obwohl die Wache nur 2 Minuten entfernt war.
Bei einer Demonstration gegen die zunehmende rechte Gewalt lief ich mit etwa 200 Menschen durch Stadt. Wir riefen: "Leute lasst das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein!" Niemand kam. Im Gegenteil. "Normale" Anwohner*innen riefen uns "Ihr Chaoten! Haut ab!" zu.
Ich zählte die Tage bis zu meinem Abitur. Es ging mir nicht um gute Noten. Es ging nur ums "Bestehen". Das Abi bedeutete Freiheit. Studieren. In einer Großstadt. Weit weg. Weg von den Nazis und denen, die sie akzeptierten.
Es dauerte über 10 Jahre bis ich mein "Glatzenradar" verloren hatte. Diese Paranoia, in jedem Menschen mit kurzen Haaren einen Nazi zu sehen und das Gefühl, die Straßenseite wechseln zu müssen.
Auch nach 20 Jahren geht mein Blick bei der Einfahrt am Ortseingang meiner Heimatstadt automatisch zur Wiese vor der Tankstelle. Ich kenne bis heute die Nazi-Hausaufgänge im Neubauviertel. Der alte Weg zur Schule fühlt sich immer noch seltsam an.
Die krassen Nazis sind weg (oder zumindest weniger geworden). Aber das Gefühl bleibt. Da hilft auch keine Stadtsanierung.
Mittlerweile bin ich mir sicher: Ich komme nicht zurück. Meine "Heimat" hat mich für immer verloren.
