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Essen wegwerfen (Thread)

Lebensmittel sind kostbar, wir sollten sie wertschätzen und nicht verschwenden - darauf können wir uns sicher alle einigen. Trotzdem plädiere ich für mehr Entspannung bei diesem Thema im Kontext Familienleben. Warum? Gedanken zu einem emotionalen Thema.
Es gibt gute Gründe, achtsamer mit Lebensmitteln umzugehen: bewusster und weniger einzukaufen, sie besser zu lagern, Reste weiter zu verarbeiten, nicht alles wegzuwerfen, was das MHD überschritten halt. Doch gerade mit kleinen Kindern ist das oft nicht so leicht wie es klingt.
Fangen wir bei den Babys an: immer mehr Eltern wählen zum Beikoststart den Weg des Baby-led Weaning, bei dem die Kinder von Anfang an selbstständig per Fingerfood die Welt der festen Kost erkunden. Eine wunderbare, bindungsorientierte Herangehensweise.
Doch Baby-led Weaning funktioniert nur, wenn wir Kindern über Monate mehrmals täglich eine gesunde kleine Auswahl verschiedener Lebensmittel anbieten und sie dann nach Herzenslust damit experimentieren lassen. Dass am Anfang fast nichts im Magen landet, gehört dazu.
Wir haben also monatelang nach jeder Mahlzeit ein ziemliches Schlachtfeld zu beseitigen, bestehend aus hingebungsvoll angenuckelten Obststückchen, wieder ausgespucktem Gemüse, zerkrümeltem Brot, mehrfach durchgekauter und dann in die Tischplatte einmassierter Nudeln.
Klar kann man versuchen, davon noch was zu retten, weiter zu verarbeiten, selbst zu essen. Doch in vielen Fällen landen diese Reste eben doch im Müll. Viele Eltern haben deshalb ein schlechtes Gewissen, schmeißen die Lebensmittelreste aber trotzdem weg.
Werden Kinder älter, kleckern sie (ein bisschen) weniger. Trotzdem bleibt die Frage 'Und was ist mit den Resten?' Teil des Alltags vieler Familien. Halb aufgegessene Schalen mit matschigem Knuspermüsli lassen sich nun mal schlecht aufheben.
Dazu kommt die Sprunghaftigkeit kleiner Kinder: mal fahren sie total auf Melone ab, dann kaufen wir eine neue, und sie wollen plötzlich nur noch Toast. Das ist völlig normal und gesund, und trotzdem macht es planvolles Einkaufen oft schwer.
Dazu kommt irgendwann die Sache mit den Snackboxen: es muss immer genügend drin sein, doch der kindliche Appetit schwankt, und so ist abends doch noch etwas übrig. Wer mag zum Abendessen Frischkäsebrot, das über Stunden ungekühlt in einer Plastikbox hin und her getragen wurde?
Es gibt noch so viele weitere Aspekte: manchmal nehmen wir uns vor, etwas Schönes zu kochen, kaufen dafür verderbliche Zutaten ein. Und dann kommt, wie so oft im Leben mit Kindern, alles anders. Irgendwer wird krank, oder hat Läuse, wir müssen Kräfte sparen und Pizza bestellen...
... und das schöne Lauchgemüse landet im Kompost, weil wir es einfach nicht geschafft haben, es noch rechtzeitig weiter zu verarbeiten. Passiert.
Und wenn wir es geschafft haben, gesund und lecker zu kochen (yay!), gehört es zum respektvollen Umgang mit Kindern, niemanden zum Probieren zu zwingen, auch Alternativen zuzulassen und kein Kind zum Aufessen zu nötigen. Was bedeutet: die Menge des Gegessenen schwankt oft extrem.
Nun können wir natürlich auch am nächsten Tag davon essen. Oder Reste portionsweise einfrieren. Und gleichzeitig ist es im Alltag manchmal gar nicht so leicht, das so hingekommen. Wie oft stellen wir Reste 'für später' in den Kühlschrank, und dort werden sie dann schlecht?
Und jede Form von Weiterverarbeitung von Lebensmitteln, die dringend weg müssen, kostet eben auch Zeit, Kraft und Ressourcen, die nicht immer da sind. Ich kann nicht mal eben Smoothies machen oder Bananenbrot backen, wenn ich ohnehin schon am Limit bin.
Weil das Thema für viele von uns so emotional besetzt ist, greifen viele Eltern zu Maßnahmen, die sie sonst strikt ablehnen: Zwang und emotionale Erpressung scheinen plötzlich probate Mittel, wenn es darum geht, die schreckliche Lebensmittelverschwendung einzudämmen.
Kindern werden Vorträge gehalten, dass sie aus Respekt dem Bäcker gegenüber ihre alten Schulbrote aufessen sollen. Dass die Kinder in Afrika froh wären, gäbe es bei ihnen die angebratenen Gemüsereste vom Vortag, die hier gerade keiner essen mag.
Sie werden in ihrer Selbstwirksamkeit beim Auftun und Auswählen von Lebensmitteln beschränkt aus der Sorge heraus, sie könnten sich zu viel nehmen und nachher nicht alles schaffen. Und bekommen dann zu hören: 'Komm, diese vier Gabeln lassen wir jetzt aber nicht liegen!'
Ja, Lebensmittelverschwendung ist Mist. Doch es ist ein schädlicher Glaubenssatz, zu meinen, es sei zwangsläufig und immer besser, Lebensmittel aufzuessen statt sie wegzuwerfen. Dieser Glaubenssatz ist es nämlich, der so viele in ungesundes Essverhalten getrieben hat.
Warum haben so viele von uns so ein schlechtes Gespür dafür, wie viel Essen wir wirklich brauchen? Wieso erkennen wir unseren eigenen Sättigungspunkt so schlecht? Wie haben wir verlernt, zu spüren, welche Lebensmittel wir gerade wirklich brauchen? Aufgrund solcher Glaubenssätze!
Wir haben gelernt, zu essen, was auf den Tisch kommt. Aufzuessen, was weg muss. Aufzuessen, bis der Teller leer ist. Im Zweifelsfall auch noch die Reste unserer Kinder aufzuessen, damit diese nicht im Müll landen. Wir haben gelernt, dass wir die paar Löffel auch noch schaffen.
Wir haben gelernt, die Entscheidung, was und wie viel wir essen, von scheinbaren Sachzwängen abhängig zu machen: Das ist da, das muss weg, das muss ich aufessen. Und das, worauf ich wirklich Appetit habe, esse ich dann im Zweifelsfall hinterher.
Wenn ich einem Kind freundlich und ohne Zwang bei jeder Mahlzeit sage, dass es die drei Gabeln doch bitte noch schnell essen soll, damit wir die nicht wegwerfen müssen, quatsche ich dadurch ihm pro Jahr mehrere tausend Kalorien auf, von denen es spürte, dass es sie nicht braucht.
Ich trainiere ihm sein natürliches Sättigungsgefühl ab und gebe ihm für sein späteres Leben Schuldgefühle im Zusammenhang mit dem Wegwerfen von Essen mit, die leicht dazu führen, dass es auch als erwachsene Person lieber zu viel isst als etwas wegzuwerfen.
Für Menschen mit Essstörungen ist es deshalb nicht umsonst eine Mammutaufgabe, die Basics gesunder Ernährung wieder zu lernen: Ich darf mit Genuss essen, was ich brauche. Ich darf jederzeit aufhören. Ich muss nichts aufessen. Ich darf auch Essen wegwerfen.
Denn, und das ist der eigentliche Punkt: es ist weder für unseren Planeten, noch für unsere Bauern oder irgendwelche Kinder am anderen Ende der Welt irgendetwas dadurch gewonnen, dass wir oder unsere Kinder mehr essen als uns gut tut, um bloß nichts wegzuwerfen.
Wenn wir ein Lebensmittel verkauft und bezahlt haben, ist es für die Umwelt letztlich egal, ob wir es essen oder ob es auf dem Kompost verrottet. Weg ist weg. Was wirklich gegen Ressourcenverschwendung hilft, ist weniger zu kaufen. So gut das im Alltag eben möglich ist.
Und ja, natürlich ist die Frage, wie wir mit überschüssigen Lebensmitteln umgehen, ein Zeichen dafür, in was für einer Überflussgesellschaft wir leben. Doch da kommen wir nicht raus, indem wir uns oder unsere Kinder unter Druck setzen. Sondern indem wir Druck rausnehmen.
Meine persönliche Erfahrung ist: wenn ich mir selbst erlaube, das Dogma, dass man Lebensmittel auf keinen Fall wegwerfen darf, loszulassen, wird vieles leichter - auch der bewusste Umgang mit Lebensmitteln.
Ich schmeiße bedeutend weniger Essen weg, seit ich mir selbst bewusst die Erlaubnis gegeben habe, es ohne schlechtes Gewissen zu dürfen. Weil durch den Druck, der so wegfällt, Ressourcen frei werden, die ich zum Beispiel fürs ressourcenschonendere Einkaufen verwenden kann.
Diese Entspannung wünsche ich Familien insbesondere mit kleinen Kindern, in deren Natur es einfach liegt, im Umgang mit Essen wild und wählerisch und ja, manchmal auch verschwenderisch zu sein. Das ist okay.
Und wenn wir mal wieder Birne-Haferflocken-Reis-Matsch wegwerfen, kann uns vielleicht der Gedanke helfen, dass wir gerade dadurch und genau so Menschen ins Leben begleiten, die später ganz genau wissen, wie viel sie wovon essen wollen.
So ironisch es klingen mag: Einen besseren Beitrag zum ressourcenschonenden Umgang mit Lebensmitteln könnten wir gar nicht leisten.
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