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Guten Morgen! Heute wird in der Ukraine gewählt. Schon wieder? Ja, schon wieder - dieses Mal aber das Parlament. Ein kleiner Thread für Neueinsteiger, warum diese Wahl immens wichtig ist.
Ukraine hat ein parlamentarisch-präsidentielles System. Das Parlament, oberster Rat (Werchowna Rada) genannt, hat viel Macht. Die Vorrechte des Präsidenten betreffen v.a. die Außenpolitik und als Oberbefehlshaber die Armee. Innenpolitisch geht ohne das Parlament nichts.
Der neue Präsident Wolodymyr Selenskyj, Komiker a.D., durfte das bereits erfahren. Seit Anfang Juni im Amt hat das Parlament alle wichtigen Entscheidungen- Entlassungen von Ministern, Gesetzesvorhaben - blockiert. Deshalb hält er die vorgezogenen Wahlen für unumgänglich.
Die Hoffnung in der Bevölkerung ist enorm. Das Parlament hat einen katastrophalen Ruf: käuflich, von Oligarchen kontrolliert. Nun soll es Selenskyj richten. Allerdings zeichnet das den politischen Zyklus in der Ukraine aus: Auf große Erwartungen folgt große Enttäuschung.
Gewählt wird nach gemischtem System: Hälfte über geschlossene Wahllisten, Hälfte über Direktmandate. Nach jahrelangem Ringen hat die Rada kürzlich einen meinen Wahlkodex angenommen: Verhältniswahl, offene Listen. Zu spät für diese Wahl: Er tritt erst in ein paar Jahren in Kraft.
Die Hoffnung ist, dass so der Einfluss der Oligarchen eingeht wird. Einige Politiker&Beobachter schätzen, dass bis zu 2/3 der Abgeordneten von Oligarchen beeinflusst werden.
Klingt nach lauter Marionetten, aber das ist zu einfach. Erstens heißt Einfluss nicht Kontrolle, zweitens gibt es das, was Politologe Fessenko einen „Pluralismus der Oligarchen“ nennt: man weiß recht gut, wie man ihre Interessen gegeneinander ausspielen und Lager wechseln kann
Bei dieser Wahl stehen nun so viele junge, neue Gesichter zur Wahl wie nie zuvor. Zwei Parteien wurden binnen weniger Wochen aus dem Boden gestampft, Selenskyjs „Diener des Volkes“ und „Stimme“ des Musikers Wakartschuk.
Auch die alten Parteien werben mit frischen Gesichtern und der abgewählte Präsident Petro Poroschenko hat seine Partei kurz vor der Wahl gar umbenannt: in „Europäische Solidarität.“ Jeder hat verstanden, dass die Ukrainer Aufbruch wollen. Die Frage ist, ob der gelingen kann.
Eine Binse, aber das hängt von mehreren Umständen ab.

1. Was für eine Machtbasis wird Selenskyj im Parlament haben? Wird es ihn blockieren?

2. Ist er in der Lage dazu,das alte System auf den Kopf zu stellen? Oder ist er selbst zu sehr mit oligarchischen Interessen verbandelt?
Zu eins: Drei Szenarien sind denkbar.
1. Selenskyjs Partei bekommt mehr als 50% plus viele Direktmandate.
2. Selenskyj koaliert mit Wakartschuks „Stimme“ & wenn das nicht reicht, dann mit Tymoschenko.
3. Wakartschuks „Stimme“ scheitert an Sperrklausel. Wäre schlimm für Selenskyj.
Zu 2: Selenskyj zeigt bislang Distanz zum Oligarchen Kolomojskyj, auch wenn mehrere Journalisten von Kolomojskyjs Sender kandidieren. Seine Symbolgrsten sind beliebt: Korrupte Beamte öffentlich zurechtweisen, sich menschennah geben.
Das ist sanfter (und harmloser) Populismus. Die Frage ist, ob er zu Reformen auch dann bereit ist, wenn seine Popularität einkracht. Ich habe Selenskyj als jemanden erlebt, dem Außenwirkung sehr wichtig ist.
Noch ein weiterer Punkt ist wichtig: Die Abgeordneten in Selenskyjs Partei sind unerfahren und extrem divers. Kann sich negativ auswirken: selbst bei großer Machtbasis hätte Selenskyj dann die Opposition innerhalb der eigenen Partei.
Aber sollte Selenskyj heute nicht die nötige Machtbasis bekommen, dann kann er nicht mal zeigen, ob er zu Reformen fähig ist. Dann wird das Land Jahre des Stillstands erleben.
Ein Phänomen noch, das angesichts des Krieges überraschen kann: die Partei Oppositionsplattform des Oligarchen Viktor Medwetschuk, der sich am Donnerstag mit Putin in Petersburg traf und eine enorme Medienmacht in der Ukraine hat. Seine Partei wird wohl zweitstärkste Kraft.
@hebelowski hat Viktor Medwetschuk getroffen und erklärt, was es mit der Oppositionsplattform auf sich hat m.spiegel.de/politik/auslan…
Die EU sollte sich genau angucken, was in der Ukraine passiert und versuchen, Lehren daraus zu ziehen. Der ukrainische Politologe Fessenko nennt es „Die Epoche der Postmoderne“. Und die betrifft nicht nur die Ukraine.
Natürlich ist die Dynamik in der Ukraine einzigartig in ihren Widersprüchen, Besonderheiten&Tempo. Aber der Wunsch nach „Nicht-Politikern“ in der Politik artikuliert sich weltweit. So gesehen spielt sich in der Ukraine ein Experiment ab, das bald auch anderswo stattfindet.
Uuuuh. Hab noch nie so einen Riemen rausgehauen. Gehe jetzt mal Eis essen und Katzen gucken, bevor es in ein paar Stunden ernst wird. Dann geht’s weiter.
Wer noch mehr lesen mag: hier mein Text aus der aktuellen @DIEZEIT - mit Fotos von @SBolesch , dem Selenskyj plötzlich über den Weg lief zeit.de/2019/30/parlam…
Liebstes Foto des Fotografen @SBolesch - Selenskyj läuft bei Grün seinen Leibwächtern und Beratern davon. Mit Twittern hat es der Fotograf nicht so, dafür aber mit Instagram instagram.com/sebastian_bole…
Es gab in dem alten Parlament übrigens auch eine Menge sehr engagierter Post-Maidan-AktivistInnen wie @svitlanaza oder @Leshchenkos , die zu wenige waren, um mehr zu verändern. Sie zahlen nun den Preis dafür, als Gesichter des alten Systems zu zählen
Beiden könnte mit seeeehr viel Glück der alte Wahlkodex helfen, das Direktmandate vorsieht. Sowohl Serhii Leschtschenko kämpft um eines als auch Switlana Salischtschuk- ohne eine Partei im Rücken. Bei beiden sieht es eher schlecht aus.
Leschtschenko setzte im Wahlkampf auch auf die Bekanntheit von Saakaschwili- dessen Partei kandidiert auch, ist aber chancenlos
Manchmal - selten - greift man zu sehr unorthodoxen Mitteln bei der Wahl in Ukraine. Hier ein Topf statt Safe für die Wahlzettel. Immerhin „Safe“ drauf gekrickelt und versiegelt (mittlerweile behoben).
Und hier Wahlkampf-Impressionen von @svitlanaza , die etwa 3 Stunden Autofahrt von Kiew entfernt um ihr Direktmandat kämpft
„Journalisten aus Deutschland?“, fragte eine Markfrau. „Wie schön, dass sich irgendwer für unsere Stadt interessiert!“ Hier Switlana Salischtschuk in ihrem Wahlkreis Swenyhorodka. Hauptthemen hier: Armut, Korruption, Krieg.
Ich liebe meinen Beruf. Ich liebe meinen Beruf. Ich liebe meinen Beruf. Ich liebe meinen...
Erste Hochrechnungen & Selenskij auf der Bühne bei der Wahlparty von „Diener des Volkes“. Da hinten steht er. Genau, da.
Erste Hochrechnungen.
Selenskyjs „Diener des Volkes“: 42.7%

Oppositionsplattform: 12,9%

Poroschenkos Europäische Solidarität: 8,9%

Tymoschenkos Vaterland: 7,6%

Wakartschuks Stimme (hat die Sperrklausel gepackt): 6,3%
Gebt dem Mann mehr Handys: @denistrubetskoy in Action. Unbedingt ff!
Auch wenn das Ergebnis für „Diener des Volkes“ etwas niedriger ist als erwartet- Selenskyjs Machtbasis sieht gut aus, es würde momentan für eine Koalition mit dem anderen Neuling, der Partei „Stimme“ von Wakartschuk reichen.
In den vergangenen Monaten habe ich mit mehr als zwei Dutzend Politologen, Abgeordneten, Reformern, Kandidaten der neuen Parteien gesprochen. Alle sagten: Entscheidend sind nun die nächsten 3-6 Monate. Das ist das Zeitfenster für die wichtigsten Reformen.
AbEr dIe ReCHTsEXtrEMeN! Nun, die kommen auf knapp 2%. Schlimm genug, aber nicht schlimmer als in manchem anderen europäischen Land
Es kursieren jetzt schon Namen für den künftigen Premierminister der #Ukraine: Ein erfahrener Ökonom soll es sein, politisch unbefleckt, kurzum, ein Technokrat. Wir werden sehen.
Zum Abschluss des Threads.

1. Vieles hängt nun von Selenskyjs sehr unerfahrener und divergierender Partei ab.
2. Ich bin ein bisschen überwältigt von dem Interesse für die Ukrainewahl - danke!
3. Hab heute nur eine Katze gesehen.

Gute Nacht!
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