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Ihr wollt etwas über #Autismus wissen? Okay, das finde ich gut, here we go. Ich weiß seit bald 10 Jahren, dass ich autistisch bin. Als ich diagnostiziert wurde, hatte ich bereits sehr viel Ausgrenzung, Mobbing und Gewalt hinter mir.
Das autistische Spektrum ist sehr groß und beherbergt ganz verschiedene Menschen mit sehr vielfältigen Fähigkeiten und Persönlichkeiten, die mit ganz unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert werden. Darum lehne ich die Begriffe "leicht" und "schwer" ab.
An dieser Stelle erzähle ich von meinem Autismus, der verhältnismäßig unauffällig ist. Das bedeutet, ich kann ihn eine Zeit lang verbergen und man merkt es mir nicht gleich an. Trotzdem schränkt er meine Teilhabe an der Gesellschaft ein, so dass er einen Behinderungswert hat.
In den 90ern und davor war das Bewusstsein für Autismus noch nicht sehr ausgeprägt. Wir fielen zwar als merkwürdig und schwierig auf, unsere Probleme waren oft erdrückend und existenziell. Wir litten unter dem Anderssein. Aber es gab immer nur einen Weg: Durchhalten und kämpfen.
Bis zur Diagnostik ist bei vielen Autist*innen meines Alters also bereits sehr viel geschehen, auch Lern- und Anpassungsprozesse. Das macht die Diagnostik komplex und schwierig, schließlich funktioniert sie nach dem Ausschlussprinzip.
Meine Diagnostik war hart und lang, am Ende aber eindeutig. Währenddessen und an jedem Tag danach habe ich sehr viel über mich gelernt. Auch, dass es nicht "den Autismus" gibt, dass wir keine wandelnden Klischees sind.
Wir alle haben mehr oder weniger große Schwierigkeiten im Bereich verbale/nonverbale Kommunikation, bei sozialen Beziehungen, in der Wahrnehmung und Reizverarbeitung und was Rituale und Routinen betrifft. Wie das konkret für die einzelnen Autist*innen ausschaut, ist individuell.
Ich selbst habe zum Beispiel eine sehr starke Mimik. Man kann mir quasi alles „am Gesicht ablesen“, meist mehr, als mir selbst lieb ist. Ich kann so kaum etwas verbergen. Manchmal denke ich, mein Gehirn vergisst es einfach, meinem Gesicht zu sagen, dass es sich zurückhalten soll.
Ganz lange hatte ich Probleme mit Sprichwörtern und Metaphern. Ich musste mich erst bewusst damit beschäftigen, um die Mechanik und Struktur dahinter zu verstehen. Seitdem klappt es ganz gut, ich habe aber trotzdem oft ulkige Bilder im Kopf, weil ich Dinge wörtlich verstehe.
Struktur ist generell eine wichtige Sache. Je mehr Struktur Dinge haben, desto besser geht es mir damit. Seit ich weiß, wie ich selbst Struktur in Alltag und Arbeit bringe, kann ich sehr viel mehr leisten. Andere brauchen mehr Hilfe damit oder haben es noch nicht herausgefunden.
Konzerte zum Beispiel laufen sehr strukturiert ab. Das macht es mir einfacher, hinzugehen, auch, wenn ich danach aufgrund der Menschen und Reize längere Erholung brauche. Mein Gehirn nimmt sehr viel wahr und filtert kaum, das braucht enorm viel Kraft.
Auch das Analysieren und Nachdenken von zwischenmenschlicher Kommunikation, darüber, was ich sage, wie ich mich verhalte, was ich mache kostet viel Kraft, weil dahinter keine intuitiven Mechanismen liegen. Sehr viel passiert bewusst. Das strengt sehr an.
Ich verarbeite auch Situationen und Geschehnisse nicht einfach von selbst, sondern sehr bewusst und muss mich aktiv damit beschäftigen. Bei den negativen ist das besonders aufreibend und belastend und dauert mitunter sehr lange.
Ich habe ein hohes Bedürfnis nach sozialen Beziehungen, meine Lieben sind mir sehr wichtig. Lange habe ich gedacht, ich bin nicht sehr gut in sozialen Beziehungen, aber das war falsch. Tatsächlich lagen alle Probleme in der Kommunikation.
Offene Kommunikation ist mein Schlüssel zu guten, tiefen Beziehungen. Mein Umfeld kommuniziert Wünsche, Bedürfnisse und Grenzen offen. Sie sagen mir, wenn sie Kontakt wollen oder Ruhe, wenn sie reden wollen oder Rückzug brauchen. Oder wenn sie es nicht wissen. Und ich ebenso.
Wir reden über unsere Unsicherheiten und Ängste. Ich entwickele zum Beispiel oft Verlustängste, wenn ich Hilfe von Freund*innen in Anspruch nehmen muss. Das spreche ich dann an und wir können uns darüber austauschen und uns Ängste nehmen.
Das ist nicht immer einfach und klappt auch nicht reibungslos. Jede*r arbeitet an sich und Missverständnisse sind keine Weltuntergänge, sondern passieren allen Menschen, egal ob autistisch oder nicht.
Ich weiß, dass das nicht Usus ist und der Umgang in meinem Umfeld eine Besonderheit an Zuneigung, Reife und Sensibilität darstellt. Bis dahin war es ein langer Weg voller Missverständnisse, Ablehnung und Schmerz. Ich weiß das, was ich nun habe, dadurch umso mehr zu schätzen.
Ja, ich habe Einschränkungen und Probleme durch den Autismus. Aber ich muss sie nicht mein Leben bestimmen lassen. Ich schaffe Workarounds, binde mein Umfeld ein, erkläre und nehme in die Pflicht. Das geht manchmal gut, manchmal nicht.
Besonders im Beruf zeigen sich Schwierigkeiten. Lustigerweise aber nicht bei mir, sondern bei nichtautistischen Menschen, die es nicht schaffen, sich auf eine offene Kommunikation einzulassen oder autistische Personen von vornherein ablehnen.
Man muss als Person mit Autismus, als Person mit Behinderung allgemein, ungleich mehr leisten als ein der Norm entsprechender Mensch. Trotzdem bekommt man nur einen Bruchteil der Chancen und Möglichkeiten und wird oft trotz hoher Qualifikation abgelehnt und diskriminiert.
Texte wie dieser bei @zeitonline tragen dazu bei, dass es uns im gesellschaftlichen Leben sehr schwer gemacht wird. Statt Vorurteile abzubauen werden hier Stereotypen beschrieben und Vorurteile untermauert.
@zeitonline So wie in dem Buch beschrieben kann ein Leben einer autistischen Frau aussehen, aber tatsächlich auch nur das eine: amzn.to/2SvYQiP
@zeitonline Mir fallen noch tausend Dinge ein, auf die ich gerne eingehen würde. Emotionsverarbeitung zum Beispiel. Mode und warum wir nicht alle geschmacklos gekleidet sind. Interessen und Spezialinteressen. Aber das würde einfach völlig den Rahmen sprengen.
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