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Familiengeschichte Hilse: Mein Urgroßvater wurde unter dem NS-Regime umgesiedelt. Er bekam um etwa das Jahr 1940 zehntausend RM für den alten Hof. Das Dorf wurde so zwischen 1936 und 1942 aufgelöst.
Das ganze geschah mit sanftem Druck, bis alle wegzogen. Sie, wie auch besagter Urgroßvater, bekamen die Möglichkeit, Höfe nebst Land zu Vorzugspreisen zu erwerben. Angeblich standen wohl 4 Orte dafür zur Verfügung.
Das Dorf, in dem ich großgeworden bin, war das nächstgelegene. Die Familiengeschichtserzählung sagt, dass er da etwas konservativ war und einfach nicht weit weg wollte. Er kam aus der Heide, schon immer schlechte Böden. Die im neuen Dorf waren im Vergleich nicht der Renner.
Geopolitisch hat er es wohl richtig gemacht. Die anderen 3 Orte waren wohl in MeckPomm und Ostpreußen. Er ist in Niedersachsen geblieben, vorher Hannoversch, immer noch Hannoversch. Wendland. "Hinterm Wald", viel Sandböden.
Für den neuen Hof hat er zwanzigtausend Reichsmark bezahlt. Also zehntausend Differenz, Kredit, wohl beim Staat. Er hat darauf bestanden, den Küchenherd mitzunehmen und keinen neuen berechnet zu bekommen. Der Schriftverkehr mit dem Reichssiedlungshauptamt blieb erhalten.
Der Umzug: Es gab organisierten Transport mit der Reichsbahn. Daneben sind die Menschen mit Pferdefuhrwerken in die neue Heimat gefahren. Ca. 80km Luftlinie. Die Umsiedlung geschah, um Truppenübungsplatz anzulegen. Noch heute ist die südliche "Lüneburger" Heide Übungsplatz.
Sein Sohn, mein Opa, ging in den Krieg. Er kam versehrt zurück. Dokumentiert ist das in den Betriebstagebüchern, die teilweise noch vorlagen. "Willi weg". "Willi zurück". Zurück kam Willi von etwa Stalingrad. Mit vergehendem Augenlicht auf einem, keinem auf dem anderen. Ein Bein.
Es gibt Aufzeichnungen, die besagen, dass das Dorf, also die Bauern, im Winter 1944/45 ins 25km entfernte Lüchow gefahren sind und die Schulden für ihre Betriebe (s.o., 10000 RM) abbezahlt haben. Die Ernte war drin, Inflation, es war ihnen sicher gut möglich.
Sie haben sich das Abbezahlen sogar gerichtlich bescheinigen lassen. Das beurkundet wohl ihre Prognose vom Kriegsausgang, ist andererseits ökonomisch ein ziemlich situationsbewusster Schachzug. Das Dorf dürfte schuldenfrei in die Nachkriegszeit gegangen sein.
Ob es schon die Amerikaner etwa im Februar 1945 waren oder später die Briten, zu deren Besatzungszone das Dorf dann gehörte: Mein Urgroßvater wurde zum Bürgermeister eingesetzt. Parteigänger war er wohl nicht, Krieg blieb - schon wegen Willi - definitiv auf ewig geächtet.
Meine Oma heiratet Willi, sie bekommen Kinder. Wilhelm, wie sein Vater, stirbt im Kindbett. Dann kommen meine Tante und mein Vater, der später vom Urgroßvater den Hof übernehmen wird.
Auf dem Dorf gibt es gut 14 Höfe, eine Schmiede, eine Dorfkneipe. Dort gibt es den ersten Fernseher, mein Vater erinnert sich an Flipper und Lassie - er darf auch mal mit. In der Dorfkneipe versaufen die Männer, die Bauern, ihr Geld.
Das Dorf funktioniert dank der Bäuerinnen, der Frauen. Sie trotzen ihren Männern die Fortentwicklung ab, so gut sie können. Oder auch nur das Dranbleiben. Und machen die ganze mühselige, schwere Arbeit. Die Bauern kaufen sich langsam moderne Landmaschinen.
Es gibt heute noch den "Bullenbusch". Das ist etwas Wiese und ein paar Bäume, die dem Bauern zustanden, der den Deckbullen durchfütterte. Jeder Hof hatte etwa 25ha eigenes Land. Langsam geht es los, dass zugepachtet wird, wenn in Nachbardörfern ein Betrieb aufhört.
Später werden auch im Dorf die Betriebe nach und nach aufhören. Die Einwohnerzahl sinkt schnell, es waren nach dem Krieg noch Flüchtlinge - Ostpreußen und Co - einquartiert. Mitte der 1980er hat das Dorf etwas über 50 Einwohner.
Schmiede und Kneipe sind lange nicht mehr da, schon vor meiner Geburt sind sie verschwunden. Ich habe noch die Bäuerinnen erlebt, die das Dorf durch die Jahrzehnte gebracht haben. Als ich Kind war, wurde noch viel Plattdeutsch gesprochen. Ich kann es noch gut verstehen.
Dieses Dorf hat kein Neubaugebiet. Nur im Rahmen des "privilegierten Bauens im Außenbereich" gab es minimale Neubauten. Eigentlich fallen mir nur drei ein. Die Geschichte des Dorfes wird verschwinden.
Warum ich das ausgerechnet hier aufschreibe: Es gehört zu den Geschichten, die ich erzählen kann. Vielleicht gehört es zu den Geschichten, die andere gern lesen. Irgendwo ist diese Geschichte auch Teil meiner Identität, etwas, womit ich mich im Augenblick viel beschäftige.
Das ist der verkehrte Name, richtig ist: Reichsumsiedlungsgesellschaft (Ruges). Das hier sieht zu dem Umsiedlungskomplex nach sehr interessanter Literatur aus: kxp.k10plus.de/DB=2.1/PPNSET?…
Der genannte Wert von 10000 RM kann eigentlich nicht stimmen, allenfalls nur für das Haus, aber auch das unwahrscheinlich. Ich muss ihn noch mal abgleichen. Das Verhältnis 1:2 (alt:neu) im Thread passt allerdings.
ich hab's noch heute entleihen können. Es ist ein großartiges Werk, eine absolute wissenschaftliche Fleißarbeit. Ich hab erst angefangen, aber ich empfehle es jetzt schon Menschen mit Interesse an dem Thema, ggf. weil eigene Familie betroffen. Die Rede ist von 1100 neuen Höfen.
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