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oGnzo @Feedforth
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Ich probiere es heute mal mit einem Twitter-Essay. Genügend Zeichen stehen uns ja inzwischen zur Verfügung.

Ich denke in letzter Zeit viel über die Selbstsucht nach. Sie scheint irgendwie das treibende Element einer mehr und mehr egozentrischen Gesellschaft zu sein...
In einer Gesellschaft, in der die Mängel anderer als mögliche Zumutung empfunden werden und bereits die Abweichung als das Scheitern eines Dürftigen gedeutet wird, ist die Selbstsucht zu einer allgemein möglichen, für manche vielleicht sogar nötigen Haltung geworden.
Selbstsucht und Selbsthass sind jedoch 2 Seiten derselben Medaille. Denn wer die eine Seite überwinden möchte, muss sich zwangsläufig zur anderen verhalten.
Selbst wer seine Selbstsucht oder seinen Selbsthass nicht überwinden möchte, trägt die andere Seite als unbewussten Antrieb weiterhin in sich.
Selbstsucht und Selbsthass lassen sich meiner Meinung nach logisch nicht trennen. Die Gehässigkeit ist ihr gemeinsames Symptom.
Manchmal reizt es mich und ich möchte einem egozentrischen und damit häufig auch sehr einseitigen Wesen seine fehlende Reflexion gerne einfach übel nehmen, diese offen anprangern. Doch man würde nur ein weiteres Schuldgefühl an eine solche Person herantragen...
...eine Schuld, vor der dieser Mensch ja längst flüchtet. Man setzt zudem nur eine weitere Gehässigkeit in die Welt, für die der Reflex gegenüber allem Störenden bereits gut eingeübt wurde.
Und wen kann man mit einer kruden Moralpredigt zur Selbstreflexion schon erreichen, außer sich selbst und andere Moralprediger, die eine Predigt für Gleichgesinnte wohl tatsächlich mit einem Dialog oder gar Politik verwechseln?
Wir müssen diese selbstsüchtigen Menschen wohl weiter wie (alte) Kinder betrachten, die es einfach nicht besser wissen. Gleichzeitig will man Ihnen die Verantwortung für diese Welt und wie diese wird niemals abnehmen...
Ein solcher Spagat ist fast unmöglich, wenn es sich nicht um die eigenen Kinder handelt.
Wenn dein Gegenüber nur Bestätigung gelten lässt, wenn dir zudem ein adrettes Erscheinungsbild und die unverblümte Gleichgültigkeit gegenüber allen Aspekten, die für dein Gegenüber keinen persönlichen Nutzen bedeuten, einfach keinen Respekt abringen: Wo soll man da anknüpfen?
[Einwurf: Ich habe hier beiläufig aber durchaus absichtlich die Moralprediger mit den anderen Selbstsüchtigen in einen Topf geworfen. Sie unterscheidet eigentlich nur wenig.]
Manche mögen ja in einem selbstherrlichen Modus einst ihren Selbsthass überwunden haben. Doch sie spielen weiterhin dasselbe Spiel, das sie einst verzweifeln ließ. In der Pubertät mit Sicherheit und auch bei den alten Männern und Frauen mit Prediger-Allüren bin ich mir sicher,
...dass die Erfahrung des eigenen altersbedingten Bedeutungsverlustes traumatisch war.

Sie wünschen sich nun ihrerseits Opfer, wohl damit niemand jemals behaupten kann, man habe in dieser gehässigen Welt jemals eine Wahl gehabt, etwas anderes zu sein, als man nun ist.
Sie schreiben die Selbstsucht und den Selbsthass fort. Der Kreislauf der modernen Egozentrik...
Offenbar ist die Selbstverwirklichung zu einem ästhetischen, ökonomischen und moralischen Spektakel verkommen. Die Frage nach dem eigenen Charakter und dessen Entwicklung, die Frage, wer man als Mensch in dieser Gesellschaft sein will, ...
... bleibt unerwünscht und steht der grenzenlosen Selbstliebe wohl nur im Wege.

Letztere scheint inzwischen eine Art soziales Kapital geworden zu sein.
Denn wenn die Welt dir in ihrer Gehässigkeit nichts anhaben kann, dann hast Du es scheinbar geschafft.

Du bist über alle Kritik erhaben, wenn Du dich niemals mit ihr beschäftigen musstest.
...und wer sich seine kindliche Unschuld im Sinne dieser Verantwortungslosigkeit bis heute erhalten konnte, lebt den Traum einer (abartigen) Freiheit, für die er oder sie von vielen beneidet wird...
Unsere Gesellschaft besitzt einen egozentrischen Kern und sie kommuniziert diesen inzwischen über die Gehässigkeit als Zeichen der erfolgreichen Unabhängigkeit.

Wir pflegen zudem den Neid auf jene, die ihre Gehässigkeit offenbar ohne Konsequenzen ausleben dürfen.
Dies gilt für junge Menschen mit schönen Körpern, die über fremde Unzulänglichkeiten lästern können wie für alte reiche Menschen, die selbst als Präsident noch schonungslos durch die Welt twittern können.
Dies gilt für eloquent urteilende Feuilletonisten mit großer Reichweite wie für den Dosenbier-Trinker mit ein paar Kontakten vor dem Stammkiosk, für den Koks-Dealer mit Protz-Karre und Bitches-Rap wie für den radelnden Weltverbesserer, die nur sich selbst nichts vorzuwerfen hat.
Es gilt für Internet-Trolle wie für Moralisten, die sich bei der Schärfe ihrer Worte irgendwann nicht mehr zurückhalten wollen, für Kirchenprediger, die mit Nächstenliebe den Zeitgeist nicht mehr treffen wie für den Politiker, die konstruktiv, vernünftig keine Wahl mehr gewinnen.
Sie alle verbindet diese Lust auf die Gehässigkeit, auf diese Unberührbarkeit, der Wunsch nach dieser kruden Form der Freiheit, die ihnen jeden Impuls erlaubt.
Würde man das Zivile als jenen Unterschied beschreiben, der den Menschen von der unmittelbaren und schonungslosen Befriedigung seiner niedersten Bedürfnisse abhält, so hätten wir derzeit ein ernsthaftes Zivilisationsproblem...
Wir haben der Freiheit des Einzelnen vertraut, dass diese den Menschen in seiner Selbstverwirklichung einfach zu etwas Schönem werden lässt.

Dass er einfach behauptet, er sei schön und müsse an sich selbst und seinen Impulsen nicht mehr arbeiten, haben wir wohl nicht bedacht...
Ist dies wohlmöglich die selbst verschuldete Unmündigkeit unserer Kinder, denen wir immer eingeimpft haben, dass sie etwas Besonderes sind?
Vielleicht haben wir es uns damit zu leicht gemacht. Denn die Kritikfähigkeit und die Selbstreflexion scheinen irgendwie auf der Strecke geblieben zu sein...
Soweit meine Gedanken.

Vielleicht war für den einen oder anderen ja eine interessante Überlegung dabei...

Euch einen schönen Abend!

<3
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