So, Hefte raus, heute machen wir etwas Sprachwissenschaft. Es geht um eines der in letzter Zeit am häufigsten missbrauchten Worte der deutschen (Amts-)Sprache: das Wort #Einzelfall. 1/18
Das Wort #Einzelfall entstammt eigentlich dem Verwaltungsrecht und ist dort Bestandteil der Definition des Verwaltungsaktes. Der ist eine individuelle Regelung des konkreten Einzelfalls: Nur ich bekomme die Baugenehmigung und nur für das Haus, für das ich sie beantragt habe. 2/18
Der Verwaltungsakt steht damit im Gegensatz zum Gesetz, das eine abstrakt-generelle Regelung ist - also für eine unbekannte Vielzahl vergleichbarer Fälle gedacht. 3/18
Die autoritäre Rechte benutzt das Wort #Einzelfall gerne höhnisch im Zusammenhang mit mutmaßlich von Ausländern begangenen Straftaten, z. B. hier: unzensuriert.de/de/einzelfall. 4/18
Dadurch vermittelt die Rechte - wohl nicht ganz unabsichtlich - den Eindruck, man wolle ausländische Straftäter von der Einzelfallgerechtigkeit ausnehmen und so eine Art Sippenhaft - oder noch besser Sippenabschiebung - einführen. Das wäre mit der Verfassung nicht vereinbar. 5/18
Achtung, aufgepasst, jetzt wird es kompliziert: Es gibt nämlich noch eine Bedeutung, in der das Wort #Einzelfall mitunter verwendet wird. Dazu ein kleines Beispiel: 6/18
Ich war mal kurze Zeit Mitglied des "Clearing-Ausschusses", eines Gremiums der Justiz, in dem Beschwerden der Anwaltschaft über Fehlverhalten der Justiz behandelt wurden. Diese Gremium fühlte sich zuständig ausschließlich bei "strukturellen Problemen", wie man es nannte. 7/18
Das Gegenteil von "strukturellen Problemen" war der #Einzelfall. Dann war man nicht zuständig, was dazu führte, dass etwa 95% der Eingaben mangels Zuständigkeit abgewiesen wurden mit der Begründung, es handele sich "nicht um ein strukturelles Problem". 8/18
Wenn z. B. ein Richter mit einem Leitz-Ordner nach einem Rechtsanwalt geworfen hatte - ein willkürlich erdachtes Beispiel - dann war das ein #Einzelfall, kein strukturelles Problem, und wurde daher nicht behandelt. 9/18
Das ist hoch problematisch, denn die Unterscheidung ist denklogisch nicht stimmig. #Einzelfall und Struktur sind keine Gegensätze. Ein Einzelfall kann auf einer höheren Ebene vielmehr durch ein strukturelles Problem verursacht sein. 10/18
So kann man sich im Falle des Akten-werfenden Richtes durchaus fragen, ob das Problem hier nicht eine Struktur ist, die solche Charaktere als für das Richteramt geeignet ansieht und im Amt belässt. Nennen Sie es von mir aus auch Auswahlverschulden. 11/18
Das Wort #Einzelfall dient hier also in erster Linie dazu, auf höherer Ebene liegende strukturelle Probleme zu verharmlosen und abzuwiegeln. 12/18
Wann immer das Wort #Einzelfall also auftaucht, sollten wir uns daher fragen, ob nicht ein strukturelles Problem dahinter steht. Das probieren wir jetzt mal schnell am Beispiel zweier aktueller Fälle aus der Presseberichterstattung: #Amberg und #Bottrop. 13/18
In #Amberg hat eine Gruppe alkoholisierter jugendlicher Asylbewerber wahllos auf Passanten eingeprügelt. Dieses Verhalten ist symptomatisch für Jugendliche oder Betrunkene, nicht aber für Asylbewerber, eine dahinter stehende Struktur ist nicht erkennbar. 14/18
Dass der Bundesinnenminister @der_Seehofer aus Anlass dieser Tat eine "Verschärfung der Abschiebungsgesetze" gefordert hat, ist sachlich kaum zu rechtfertigen; es dürfte als reiner Populismus zu bewerten sein. 15/18
In #Bottrop hat ein möglicherweise psychisch labiler Hartz-IV-Empfänger mit seinem Auto versucht, Menschen zu töten, die er als "Ausländer" identifiziert zu haben glaubte. Das ist ein #Einzelfall, aber dahinter kann man durchaus ein strukturelles Problem vermuten. 16/18
Auf die hanebüchene Idee, gerade Jagd auf "Ausländer" zu machen, dürfte der Täter nämlich kaum von selbst gekommen sein. Die dahinter stehende Idee, dass "Ausländer" Schuld an seinem Elend sein könnten, entstammt vielmehr einer bestimmten politischen Struktur. 17/18
Und diese Struktur ist ein Problem für den demokratischen Rechtsstaat. Sie bedroht ihn nämlich. 18/18
