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Anwälten eilt der Ruf voraus, sie seinen arbeitsscheu und arrogant. Mit einem kurzen Thread aus meinem Alltag, würde ich gerne alle Vorurteile, die sich gegen unsere Berufsgruppe richten bestätig...äh bestreiten:
08:00 Entgegen der Annahme, dass das Böse nie schläft, erwache ich. Mit dem Schlaf in den Augen und dem Schalk im Nacken verlasse ich das Bett. Die Angestellten bereiten unterdessen das Frühstück vor.
08:07 Nach Eintreffen im Speisesaal, nehme ich Platz und Kaffee. Die erste Klageschrift verlässt das Mail-Postfach. Ein Tag, an dem man keinen Menschen vor 9 Uhr verklagt, ist ein verlorener Tag.
08:30 Der Kaffee ist die einzige Wärme in meinem Körper. Gestärkt durch eine Mischung aus Machtgefühl+Koffein begebe ich mich in's Bad. Bei einer kurzen Dusche, wasche ich mich rein von meinem Gewissen. Mit Make-up verdecke ich bewusst meine Lachfältchen am Auge.
09:00 Der Gärtner wird beim Verlassen des Hauses angewiesen, die Hecke auf ein sozialübliches Mass zu kürzen, sodass den Nachbarn ein knapper Blick auf den, im Hof befindlichen Fuhrpark und den neuen Springbrunnen im Vorgarten freigegeben werden kann.
09:15 Ich erreiche das andere Ende des Anwesens. Die Qual der Autowahl in der Garage: Ich möchte den Münzwurf entscheiden zu lassen. Ungünstigerweise befinden sich in meinem Portemonnaie nur 1000 CHF-Noten. Ich wähle den roten Porsche, da nur er zu den roten Fingernägeln passt.
09:20 Der Nachbar (Chirurg) wird von seiner Frau mit den Worten „Viel Erfolg bei der OP“ verabschiedet. Als wir uns mit unseren Porsches an der Strasse kurz begegnen, rufe ich durch die geöffnete Scheibe: „Wohl eher viel Glück.“ Lachend nimmt er mir die Vorfahrt.
09:24 Mit bewusster Fahrlässigkeit und übersetzter Geschwindigkeit fahre die Hauptstrasse entlang und überlege mir rechtliche Argumente für den Falle einer Streifkollision mit einem Helikoptermutter-SUV, der gerade konstant auf dem Mittelstreifen fährt. Aufkommende Streitlaune.
09:30 Ich parkiere den Wagen im Halteverbot vor der Kanzlei und schreite dynamisch die Stufen hinauf.
Beim Eintreten, begeht der Kollege den ersten untauglichen Versuch mir eine Akte andrehen zu wollen. Flucht in's Büro.
09:45 Ich werfe einen kurzen Blick in eine offene Akte. Bedeutungsschwanger streiche ich wahllos einige Zeilen mit Highlighter an. Das Handy klingelt plötzlich: Ein Anruf der Polizei. Mein Wagen stünde im Parkverbot. Ich lege auf. Ich rede nicht mit den Cops.
10:30 Der Partner lädt auf eine erste Runde Büro-Golf ein. Auf dem Weg dorthin verabschiedet sich ein Kollege bereits in den Feierabend.
11:55 Gleich beginnt das Kanzlei-Meeting. Auf dem Weg dorthin, möchte mir der Kollege erneut die Akte andrehen. Flucht in den Meetingraum.
11:00 Sitzungsbeginn. Doch 1 Kollege und 1 Kollegin fehlen. Sie wollten zusammen noch schnell „ein paar Akten kopieren“. Man beginnt die Sitzung daher unvollständig mit einem Champagner-Apéro.
11:02 Die "kopierenden" Kollegen hasten in den Raum. Beide streichen sich schnell die Kleidung+Haare zurecht. Kurze Stille. Innerlich erkläre ich aus leiser Vorahnung den Kopierraum für unbetretbares Terrain. Wenigstens hatte sie kein Vampirkostüm an, denke ich.
11:05 Diskutiert werden interne Kanzlei-Angelegenheiten. Das Studenhonorar wird neu auf 800 CHF herabgesetzt. Man möchte auch die „kleineren Mandate“ für sich gewinnen. Währenddessen stöbere ich bei Zalando und sortiere die Produkte nach „Preis absteigend“.
11:10 Man denkt über die Beschaffung eines Kanzleihundes nach. Die Scheidungsanwälte wollen einen Chihuahua-die Strafrechtler einen Rottweiler. Nach 45 Minuten wird ein Mediator zwischengeschaltet. Bei einem Blick auf die Rolex stelle ich erleichtert fest, dass gleich Mittag ist.
12:00 Der Weg mit den Highheels ins Restaurant erweist sich als echter Gang nach Canossa. Leider möchte ich auf diese Schuhe nicht verzichten, da ich grundsätzlich grösser, als der gegnerische Anwalt sein muss. Ein Anruf des Chirurgen-Nachbarn wird weggedrückt. Was er wohl will?
13:45 Verhandlung am Gericht: Im Gang begegnet mir der Anwalt der Gegenseite in Kurzarmhemd und Sandalen. Ich erkläre den Prozess innerlich bereits für gewonnen. Anruf 2 des Chirurgen-Nachbarn wird ignoriert. Vielleicht lief die OP so gut, dass er mir das mitteilen möchte?
14:00 Verhandlungsbeginn. Während den einleitenden Worte des Richters, setze ich den Zalando-Bestellvorgang fort, welcher später lediglich durch das beginnende Plädoyer des anderen Anwalts unterbrochen wird.
14:27 „Aus Versehen“ lasse ich meinen Stift vom Tisch fallen und beuge mich langsam mit meiner offenen Bluse vor. Irritiert unterbricht der Anwalt das Plädoyer und beginnt zu stottern. Ich habe einfach immer 2 bessere Argumente, grinse ich in mich hinein.
15:45 Nachdem, der Mund des gegnerischen Anwalts und das Beweisverfahren geschlossen waren, kommt es wenig später mit der Urteilsverkündung zum Verhandlungsende. Ich schreite wie gewohnt als Sieger aus dem Saal.
15:55 Der Chirurg ruft wieder an. Ich nehme ab. „Machst Du eigentlich auch Arzthaftungsrecht?“. Ich entgegne: „Nicht mein Fachgebiet, aber für Geld mache ich alles“. Wir vereinbaren keinen extra Termin, da wir uns ohnehin am Wochenende zum Segeln verabredet haben.
16:00 Ich verlasse das Gericht in Richtung Kanzlei. Am Wagen angekommen, entferne ich einen Strafzettel und lasse ihn zerrissen zu Boden fallen. Ich fahre los. Der Verkehr ist, wie das Plädoyer des gegnerischen Anwalts: sehr stockend. Drohende Verspätung zu meiner Verabredung.
16:02 Ich entschliesse mich, den kürzeren Weg quer über die Grünfläche des angrenzenden Parks zu nehmen und befahren den Rasen. Der Pöbel ist empört.
16:04 Ein aufgebrachter Parkmitarbeiter eilt mir nach: „Anhalten!“ Nach einem kurzen Streit erkläre ich ihm: „Ich bin Juristin, wissen Sie, was der Rasen und das Gesetz miteinander gemeinsam haben?“ Er verneint. „Ich setzt mich darüber hinweg“, entgegne ich und fahre weiter.
16:30 Der Golftermin mit den Kollegen kann pünktlich wahrgenommen werden. Der junge Strafrichter erzählt, er habe heute im Gericht schon 4 Leute eingelocht. „Macho!“, ruft der Kollege. Schallendes Gelächter. Man beginnt mit dem argumentativen und golftechnischen Schlagabtausch.
17:35 Mail vom Mediator. Der Streit um den Kanzleihund ist geschlichtet. Die Rasse steht zwar noch nicht fest, aber er soll „Rechtsgutachten“ heissen, weil man dann den Wortwitz „Können Sie bitte das ‚Rechtsgutachten‘ einmal ausführen?“ machen könne, wenn der Hund Gassi muss.
19:30 Fahrt vom Golfplatz nach Hause. Unterwegs gerate ich in eine Polizeikontrolle. „Ihr seid doch alle Fanboys“, rufe ich und beschleunige. Ab einer Geschwindigkeit von über 80 km/h, kommt die Schweizer Polizei eh nicht mehr hinterher.
20:00 Zuhause. Nach einem kontrollierenden Blick über den neuen Heckenschnitt, winke ich den neiderfüllten Nachbarn. „Angeberin!“ rufen sie. Ich drohe mit Unterlassungsklage.
21:45 E-Mail Kontrolle. Der nervige Kollege von heute früh hat mir die Akte nun elektronisch geschickt. Ich verschiebe sie in den SPAM-Ordner. Der Partner lädt zudem zur jährlichen Büro-Golf-Meisterschaft in die Kanzlei ein. Ich sage zu.
22:00 Innerlich erkläre ich den heutigen Tag für beendet. Zufrieden sinkt mein Kopf langsam in das Daunenkissen. Hoffentlich träume ich nicht schon wieder von Lehrer-Mandanten...
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