Ich habe gestern darüber nachgedacht, warum in der jüdischen Gemeinde von Erlangen/Nürnberg der antisemitische Doppelmord von 1980 fast 40 Jahre lang kaum thematisiert worden ist. Ich bin da aufgewachsen, aber die Tat wurde in meiner ganzen Jugend nie erwähnt. 1/
Meine Eltern hatten die Mordopfer Shlomo Lewin und Frida Poeschke gekannt, sie waren öfter bei ihnen zu Hause. Der Kantor, Baruch Grabowski, der mich 1996 auf meine Bar Mitzwa vorbereitete, war einer derjenigen, die von der Polizei fälschlich der Tat verdächtigt wurden. 2/
Die vielen Gemeindemitglieder, die sich anfangs gegen Verdächtigungen der Polizei wehren mussten, lernte ich als Eltern und Großeltern meiner Freunde kennen. Aber erst als Erwachsener habe ich auf Umwegen von diesem Doppelmord erfahren und Fragen gestellt. 3/
Wollte man es den jungen Leuten ersparen? Inzwischen glaube ich, dass zwei Dinge eine Rolle gespielt haben. Einerseits die Erniedrigung durch eine Ermittlung, die sich nicht so sehr gegen Neonazis richtete wie vor allem – überaus öffentlich – gegen die jüd Gemeinde selbst. 4/
Zu dem Schock über den Doppelmord (und die Angst) in der jüdischen Community hat sich so noch eine andere Angst gesellt: dass die kriminelle Sache an „den Juden“ hängenbleibt. Jedenfalls als irgendwie undurchsichtige Geschichte. 5/
Das Thema dieses Neonazi-Mordes, das für die Gemeindemitglieder schon furchtbar genug war, ist so noch zusätzlich zu einem Schambesetzten, jedenfalls Heiklen gemacht worden. Andererseits scheint bei manchen der älteren Mitglieder, die die Shoah überlebt hatten… 6/
…wie zum Beispiel Josef Jakubowicz, der 1980 an den frischen Tatort gerufen worden war, um die Leichen zu identifizieren, noch etwas anderes eine Rolle gespielt zu haben. Darauf bin ich in Interviews mit ihm gestoßen. 7/
Ich kannte Jakubowicz (1925-2013) nur als Großvater einer Freundin. Die Nürnberger Forscherin Birgit Mair aber hat ihn 2010 interviewt, und es ist seltsam lapidar, wie er da über den Wehrsportgruppe-Anführer Karl-Heinz Hoffmann spricht. Als sei das eher ein Würstchen gewesen. 8/
Als hätte er schon Schlimmeres gesehen... Josef Jakubowicz hatte elf Konzentrationslager überlebt. Ein Weiterleben in Nürnberg, der Stadt Julius Streichers und der Rassengesetze, muss für ihn unwirklich gewesen sein. Das dürfte für viele gegolten haben. 9/
Für Nachgeborene wie mich ist das schwer nachzuempfinden.
Aber es war 1980 nicht das erste Mal, dass in ihrem persönlichen Umfeld ein Mensch als Jude ermordet worden war. Und es war auch bei weitem nicht das Schockierendste in ihrem Leben. Auch nicht in dieser Stadt. 10/
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Warum sollte #Inzest entkriminalisiert werden? Warum ist das Inzestverbot in Paragraf 173 StGB wirklich ein Problem für diesen Rechtsstaat und diese Gesellschaft? Ein Thread 1/
Die Aufhebung der Strafbarkeit einverständlichen Inzests im Jahr 1810 in 🇫🇷 markierte nicht etwa den Rückfall der Franzosen in dunkle Vorzeit, sondern 1 Schritt hin zur Aufklärung: Wo niemandem Unrecht angetan wird, da gibt es für eine Gesellschaft auch nichts zu bestrafen. 2/
Das ist das Grundprinzip säkularen Strafrechts. Wer den „einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen erwachsenen Geschwistern“, wie das Bundesverfassungsgericht den Inzest definiert, verbieten will, kommt also nicht umhin zu sagen, worin dabei das „Unrecht“ bestehen soll. 3/
„Je suis Meinungsfreiheit“? In Sachen #Religionskritik steht das deutsche Recht übrigens keineswegs klar auf Seiten der Aufklärung. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, den #Gotteslästerung-Paragrafen abzuschaffen. Thread 1/
Zu Zeiten Tucholskys, der 1928 wegen seines Gedichts „Gesang der englischen Chorknaben” angeklagt wurde, hieß die Strafvorschrift noch offiziell „Gotteslästerung”. Heute, in modernisierter Form, „Beschimpfung von Bekenntnissen“, § 166 StGB. 2/
Es macht sich strafbar, wer „den Inhalt des religiösen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören”. Und das ist das Problem: 3/
Als Jurist*innen beobachten wir, wie viel Geländegewinn den Völkischen, Antisemit*innen & Neonazis zuletzt gegenüber dem Rechtsstaat gelungen ist.
Am 28.10. starten wir gemeinsam etwas dagegen.
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Der Report „Recht gegen Rechts“, veröffentlicht im Fischer Verlag, dokumentiert u analysiert die wichtigsten Urteile und StA-Entscheidungen des Jahres zu #Rassismus, #Antisemitismus, #LGBTIQ-Feindlichkeit, #HateSpeech - verständlich & mit Literaturtipps 2/
Anstatt den Schutz des Eigentums zum Fetisch zu erheben, könnte das dt. #Strafrecht viel stärker die Pluralität der Gesellschaft verteidigen, die von Rassisten und Antisemiten attackiert wird. Mein - finde eigtl - bescheidener Vorschlag im neuen Heft der Deutschen Richterzeitung.
„Ich glaube nicht, dass das ein realistisches Abbild ist“, sagt mir ein Verfassungsschützer aus einem Bundesland über das „Lagebild #Rechtsextremismus in Sicherheitsbehörden“, das #Seehofer am Dienstag um 11h vorstellen will.
Warum?👇1/6
Wer die Entwurfsfassung des Berichts lesen konnte, der fand dort wenig mehr als das, was eh in Zeitungen zu lesen war: Lauter bekannte Fälle, bei denen zwischen dem 1. Januar 2017 und dem 31. März 2020 Disziplinar- oder Strafverfahren gegen Polizeibeamte eingeleitet wurden. 2/6
An der Spitze steht #Hessen mit 59 solchen sogenannten Verdachtsfällen. Dahinter kommt #Berlin mit 53. #Bayern meldete 31 Fälle, #Sachsen lediglich neun. Es war die Aufgabe des #Verfassungsschutz|es, diese Zahlen einzusammeln. 3/6
In der EU haben viele vergessen, dass einst auch Millionen Europäer von dem alten Kontinent flüchteten – und ohne Aufnahme erbärmlich krepiert wären. #Moria#LeaveNoOneBehind (ein Thread) (1/9) sz.de/1.1962405
Der Flüchtlingsstrom, der einst aus Europa kam, bestand aus durchschnittlich einer halben Million Menschen - pro Jahr. Und dies ein ganzes Jahrhundert lang, zwischen 1824 und 1924. (2/9)
Insgesamt waren es 52 Millionen Europäer, die in diesem Zeitraum ihre Heimat verließen. Allein aus Deutschland kamen 1882 eine Viertelmillion Migranten. (3/9)