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„Entspanne dich. Lass das Steuer los. Trudele durch die Welt. Sie ist so schön: Gib dich ihr hin, und sie wird sich dir geben.“, schreibt Kurt Tucholsky 1929. Der Text liegt in den Regionalbahnen des NVV in kleinen Heftchen als „Poesie unterwegs: Reisefieber“ aus. Und es kann
nur gut „kynisch“ gemeint sein, ihn hier zu zitieren, wenn man die Realität der #Migration auf diese Weise ungeschönt und dialektisch anspricht. „Zynismus“ ist das Wort, das der Rechtsanwalt für Verwaltungs- und Sozialrecht Sven Adam (RA) in #Eschwege zitiert. Und er zitiert das
Sozialgericht Kassel. Denn diesen Ausdruck verwendete das Gericht in einem Schreiben an den „Stab Migration“, einem Fachbereich der Kreisverwaltung des Werra-Meißner-Kreises in Eschwege. Dort werden seit Jahren gehäuft „irre“, das heißt unverständliche Entscheidungen gefällt –
zu Ungunsten von Geflüchteten. Der Arbeitskreis Asyl in Witzenhausen (AK Asyl) hat diese Fälle dokumentiert und auf der Veranstaltung „Wie sozial ist das Amt?“ mit Podium und Publikumsbeteiligung im Eschweger E-Werk am 4.9.2019 zur Grundlage einer öffentlichen Diskussion
gemacht. Allein 53 von 55 Klageverfahren gab es im Jahr 2019 beim Kasseler Sozialgericht gegen das Sozialamt beim Stab Migration in Eschwege. Warum? Der Saal war mit etwa 150 Personen gut gefüllt – soviel hatten einige nicht erwartet. Der ethische Skeptizismus, der aus den
Worten der Expertinnen in eigener Sache spricht, war nicht zu überhören. Ethik, die Lehre von den guten Sitten, Skeptizismus, die Vorhaltungen, die man der Welt gegenüber berechtigterweise haben kann, könnte auch antreiben, etwas zu verändern.
Uwe Kümmel, Leiter des Stabes musste sich darum auch einiges anhören. Er, der sicher nicht nur im Auftrag des Landrats Stefan Reuß (SPD) kam, argumentierte freilich weniger auf moralischer Ebene. Er sprach mit formeller Coolness von „Abläufen“ und zu befolgenden Gesetzeslagen.
Genau diese Logik macht die A-Logik, das Unlogische der Verwaltung aus. Die, so kann frau sich das erklären, als Bürokratie eine politische Eigendynamik entwickelt. Wie diese Dynamik zu rechtswidrigem Verhalten führt, ist der herausgearbeitete Streitpunkt des Abends. Die
Schilderungen von „Fällen“ die von der sehr verbindlichen und souveränen Moderatorin Anne Chebu von der _Initiative Schwarze Menschen in Deutschland_ sehr bald nach vorne geholt werden, lassen wenig Zweifel: Menschen die nach Deutschland flüchten mussten, Asylbewerber waren
nicht entspannt auf Reisen. Posttraumatisches, Beleidigungen und Drohungen auf der Strasse, abwertender Gestus von Beamten, in den Nahverkehrszügen, Racial Profiling und sogar körperliche Gewalt sind bekannt. Dass die drei Gründe für Flucht, die Muhammad Ali auf dem Podium
nennt, nämlich Krieg, unerwünschtes und verfolgtes politisches Engagement, die ökonomische Suche nach einem besseren Leben, alle legitim sind, wird von Kümmel in das Thema der „Einzelfälle“ gesteckt. Alis Feststellung (den er wie einen versteckten Appell formuliert), die
Menschen im Land seien freundlich, wirkt ein wenig zweck-beschönigend. Er, der so kämpferisch Mut macht, sich zu wehren, beschreibt amtliche, existentielle Bedrohungen. Der frappierendste Fall, der später zur Sprache kommt, ist vielleicht der einer Frau, die eine Schuheinlage
benötigte, um Probleme mit ihrem Fuß zu beheben. Das Amt für Migration in Eschwege verweigerte ihr dies mit dem Hinweis, sie solle doch barfuß gehen, dann würde das schon werden (so RA Sven Adam). Es ging um einen lächerlichen Geldbetrag von 70,00 €, der in zwei Jahren
Gerichtsverfahren eingeklagt werden musste. Ali vermutet darum dann auch mit einer aufrechten Bitterkeit: „sie wollen uns schaden. sie wollen uns zwingen, zurück zu gehen, sie sagen, das ist nicht euer Land.“
Auch wenn vermutet werden kann, dass „Order von oben“ kommen, so und nicht anders zu verfahren, wird an dem langen Abend deutlich, wie wenig der Unterschied von systematischer Diskriminierung mit Vorsatz und struktureller Diskriminierung bekannt ist. Reuß, einst
Jungsozialist heute unter anderem Mitglied der Verbandsversammlung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, lässt seine Mitarbeiter gegen ein „Bashing“ und den Vorwurf verteidigen, sie agierten pauschal diskriminierend. Die Sachbearbeiterinnen seien keine Rassisten.
Denn das wird indirekt behauptet. Justyna Staszczak von Response in #Kassel, einer Einrichtung der _Bildungsstätte Anne Frank_ (bs-anne-frank.de), die Betroffene rechter und rassistischer Gewalt berät, legte dagegen in Eschwege dar: Nicht die Intention, nicht die
Einstellung, diskriminierend und rassistisch handeln zu wollen, ist entscheidend. Es sind die geduldeten, die in Kauf genommenen Folgen, welche Rassismus so ungreifbar machen. Von den Betroffenen her zu verstehen, was passiert, ist dabei die eingenommene Perspektive. Die
staatlich obrigkeitsmäßige Sichtweise kann sich vielleicht nur mit einer Reform der Verwaltung verändern, wie vorgeschlagen wird. Dieser reichlich abstrakte Umstand ist schwer zu verstehen, wenn er nicht konkrete Konturen bekommt.
Die vielen Beispiele, die an jenem Donnerstag vorgetragen werden, die ehrenamtlichen Betreuer und Helfenden, lassen auf ein funktionierendes Netzwerk in Osthessen schließen, das prinzipiell solidarisch, aber auch geteilter Meinung dasteht. Die einen sehen sich als Begleiter
zum Amt und Berater, andere meinen, sprachliche und kommunikative Probleme immer lösen zu müssen. Eine grundsätzlich pädagogische Haltung Geflüchteten gegenüber wird darum auch von diesen vehement abgelehnt. Geht es den „Betroffenen“ doch um ihre eigene, individuelle, ihnen
auch grundgesetzlich zustehende Menschenwürde. Die leider teilbar ist, wie wir in Deutschland wissen. Wie es dazu kommen kann, dass Gelder vom Sozialamt nicht oder nicht rechtzeitig ausgezahlt werden, dass medizinische Versorgung „kassentechnisch“ nicht ankommt, kann
erläutert werden. Erhält eine Geflüchtete eine Arbeitserlaubnis, bedeutet dies nicht, sofort Lohn beziehen zu können. Bekanntlich gibt jeder Arbeiter dem Käufer seiner Arbeitskraft einen Kredit und erst am 1. oder 15. des folgenden Monats kommt der Lohn. Das Sozialamt
in Eschwege sieht das anders und hält jemanden für finanziell abgesichert, obwohl beispielsweise von Amazon noch gar kein Arbeitsvertrag unterzeichnet wurde. Hierbei werden vermutlich wissentlich Kenntnisse beiseite gelassen. Eine Beweislastumkehr wird betrieben. Endet zum
Beispiel die zeitlich begrenzte Duldung, wird die Betroffene wie nicht existent behandelt, obwohl jederzeit das Existenzminimum aufrechterhalten werden muss. Die Würde des Menschen ist nicht zu relativieren, so das Bundesverfassungsgericht.
Die Rechtsauslegung im Kreis wirkt rechtslastig, die „Ausländerbehörde“ darum belastet. Der AK Asyl entwirft ganz zu Beginn einen Runden Tisch, der einen Neustart bewirken könnte. Dies wird von einigen im Saal aufgegriffen. Beispielhaft von der Koordinationsstelle der
#BildungsstätteAnneFrank, die dazu eine Einladung vorbereiten will. Das hätte auch die Diakonie Hessen tun können, die noch am Tag der Veranstaltung die Teilnahme am Podium abgesagt hat. Erfahrungen, die sich zum Teil seit 20 Jahren wiederholen, der Eindruck, es ändere
sich trotz zivilgesellschaftlichem Einsatz nichts, die unhaltbaren Zustände in den Camps in Griechenland, in Italien seit den Dublin-Regelungen, die zur Abschottung der inneren EU führten, all das muss in das Problembewusstsein der Verwaltung und seiner politischen Spitzen
eingehen. Denn die „Sachprobleme“ betreffen die Grundlage des Wohlergehens der Menschen, die Schutz suchen. Interkulturelles Lernen wäre nötig. Matze Schmidt
Der AK Asyl trifft sich jeden 2. Donnerstag. Er begleitet bei Behördengängen, vermittelt Kontakte zu RechtsanwältInnen Und Reden, Essen und Feiern sind genauso wichtig. Hier ist die E-Mailadresse für Kontakt: akasylintern (at) riseup . net.
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