Thread by @RichterHedwig

Warum sind #aufschrei oder #MeToo eine großartige Sache? Warum haben sie unserer liberalen Demokratie geholfen - und warum ist es (imho) wenig sinnvoll, sie als Verbotskultur schlecht zu machen?
(Thread)

Zunächst: Demokratie ist ein bürgerliches Projekt ist, im Wesentlichen von Bürgern & einigen Bürgerinnen erdacht u mit dem Bürgertum seinen Aufstieg im 19. Jh nehmend. D.h. Demokratie lebt von Bildung, von Selbstbeschränkung/-kritik, vom Kommunikativen, vom SichZurücknehmenKönnen

In diese weite Definition von Bürgertum reihen sich die Sozialist/innen ein, die zunehmend auf Bildung setzten & sich sozusagen verbürgerlichten. Und: Natürlich ist Bürgerlichkeit kein Garant für Demokratie, wie der Nationalsozialismus gezeigt hat, aber ohne sie wird es schwierig

Zunächst zur Sprache:
Bürgerlich ist es zweifellos, in der Sprache Rücksicht auf andere zu nehmen – ein Reizthema für Rechte.
Sie behaupten, es gäbe eine "Sprachpolizei", eine "Verbotskultur", viele sind so geschichtsvergessen und vergleichen die Bundesrepublik mit der DDR:

Auf der anderen Seite wird behauptet, die "Grenzen des Sagbaren" weiteten sich aus? Wirklich? Lässt sich das historisch irgendwie festmachen?

Wenn man sich die Sprache der frühen Bundesrepublik oder der DDR anschaut, in der frauenfeindliche Sprüche den Alltag beherrschten u offener Antisemitismus okay war, wo Menschen mit anderer Hautfarbe od mit Behinderungen offen verhöhnt werden konnten - nein: keine good old times!

(Zwischen-Weisheit: Nostalgie und die Sehnsucht nach alten Zeiten ist ein Luxus, den sich Frauen und Minderheiten nicht leisten können.)

Political Correctness ist bürgerlich, sie ermöglicht ein cooleres, freundlicheres Zusammenleben.
Sie skandalisiert Begriffe, die gestern noch normal waren! Tut das weh? Ja! Es gibt Menschen, die früher selbstverständlich so ziemlich alle Privilegien genossen, und die ärgern sich

Apropos Skandal: Warum #Metoo noch großartig ist: Die Geschichte der Demokratie ist auch eine Geschichte der Skandalisierung. Verhungern war irgendwann nicht mehr gottgewollt, sondern wurde zum Skandal. Ebenso Kindersterblichkeit - und so konnte der Missstand bekämpft werden.

Skandale setzten neue Normen, sie bedeuten (u.a.), dass Selbstverständliches fragwürdig wird. Mit dem #MeToo-Skandal wird ein neuer Standard gesetzt: Kein ungewollter Übergriff ist okay, kein doofer Macho-Spruch. Es ist noch viel, viel mehr:

Die Selbstverständlichkeit des Sexismus, seine Alltäglichkeit hat ein Ende. Das heißt nicht, dass er weg ist, aber der Skandal zeigt auf, dass das Problem nicht auf der Seite der Frau liegt, die das nicht will, sondern auf der anderen Seite.

Nun kann auch der machtvolle Mann nicht mehr ungestört & selbstverständlich auf den Körper der Frau zugreifen, eine der variantenreichsten, ältesten, selbstverständlichsten Praktiken, die sich in der Übermacht des Herrschers ge-genüber den Untertanen gezeigt hatte, in der Macht->

<- des Hausherrn gegenüber der Magd, des Sklavenbesitzers gegenüber der Sklavin, des Ehemanns gegenüber der Gattin, des Chefs gegenüber der Angestellten, des einflussreichen Moguls gegenüber der jungen Frau, des physisch Stärkeren gegenüber der körperlich Schwächeren.

#MeToo trägt dazu bei, dass auch der Körper der abhängigen Frauen unantastbar wird. - Leute, das ist soooo viel! So großartig! (Eigentlich selbstverständlich.)