Thread zur angeblichen politischen „Spaltung“ der Gesellschaft (aka „Riss“ oder „Kluft“), vor der alle Seiten warnen, die aber nie präzise erklärt oder gar empirisch belegt wird. These: Weil es sie nicht gibt. Denn was genau würde dieses Sprachbild denn real bedeuten? (1/12)
Dass zwei Seiten überhaupt nicht mehr miteinander reden, nicht mehr miteinander in Kontakt kommen, sich nicht mehr austauschen können, weil ihre Positionen so radikal sind, dass sie nicht nur unvereinbar werden, sondern unverhandelbar, unbesprechbar. (2/12)
Dass zum Beispiel in Sachen Migration 70% für eine weitere massenhafte Aufnahme von Flüchtlingen aus aller Welt ohne besondere Auflagen wären. Und 30% für die totale Abschottung, ständige Grenzkontrollen und Abschaffung des Asyls. Und dazwischen niemand. (3/12)
Stattdessen sind die Meinungen über das politische Spektrum verteilt. Migration wird in großer Vielfalt diskutiert, wie die allermeisten Themen auch. Genau das macht es so schwer, Einigung zu erzielen. Ein tiefer Graben? Eher ein Sumpf. Anstrengend, träge, schmutzig. (4/12)
Eine extreme Polarisierung hieße hingegen, dass man gar nicht mehr diskutiert, was gerade noch diskutabel ist an Antisemitismus, Rassimus oder Frauenfeindlichkeit, sondern alles Rechtsextreme ein für alle Mal in diskursive Karantäne steckt. (6/12)
Gäbe es diese Spaltung, säße kein einziger rechter Politiker mehr in TV-Sendungen. Wären Unvereinbarkeitsbeschlüsse unnötig. Könnte sich kein Politiker der sog. „bürgerlichen Mitte“ von AfDlern zum Ministerpräsidenten wählen lassen. (5/12)
Wo verläuft die eigentliche Polarisierung? Zwischen einer zunehmend aggressiven Rechten und dem Rest, ja. Aber asymmetrisch. Die Neue Rechte versucht, ihre Haltungen mit Hetzkampagnen und Gewalt bis hin zum Mord durchzusetzen. Um letztlich Demokratie abzuwickeln. (7/12)
Es bleibt ein blinder Fleck vieler "Analysen": es ist ein existenzieller Unterschied, ob eine politische Position per se extrem erscheinen. Oder ob das Extreme an dieser politischen Position ist, alle anderen politischen Position abschaffen zu wollen. (8/12)
Die Symptome dieser gefährlichen Differenz eine Spaltung zu nennen, unterschlägt, dass die eine Seite längst zielgerichtet militarisiert ist – während die andere noch über rote Linien streitet. (9/12)
Die Spaltung aber, die man mit Dialog überbrücken müsste, mit Nachsicht gegenüber den Extremisten, sie ist eine Einbildung, und somit fehlt die Grundlage, auf der immer wieder Verhandlungsbereitschaft eingefordert wird. (10/12)
Wieso sind die falschen Sprachbilder dann so beliebt? Weil sie eine prägnante Analyse simulieren, indem sie dem kaputten System die Schuld geben. Individuelle Verantwortung wird externalisiert, der Handlungsdruck gegen Rechtsextremisten gemindert. (10/12)
Was wir brauchen, ist eine radikal demokratische Aktivierung der Menschen, die die Demokratie gegen ihre Feinde verteidigen wollen. Die Selbstlüge der „Spaltung“ irgendwo durch die „Mitte“ der Gesellschaft muss einer diskursiven Quarantäne gegen Rechtsaußen weichen. (12/12)
