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Totenhausmitteilung: @DerSPIEGEL und Marie Sophie Hingst. 1/31
Jetzt hat @DerSPIEGEL doch noch eine Erklärung von Martin Doerry zum Tod von Marie Sophie Hingst gebracht. spiegel.de/plus/marie-sop…
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Das ist gut. So kann man unter Kollegen und mit Lesern über die Sache sprechen. 3/31
Denn wie @C_Emcke schreibt: „Als Journalistin nicht zu reflektieren über die Frage, über was es zu schreiben oder nicht zu schreiben gilt, das wäre auch unrecht.“ sueddeutsche.de/medien/tod-hin…
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„So zu tun, als ginge uns dieser Tod nichts an, als forderte er uns nicht alle heraus, das wäre allzu zynisch und bequem.“ 5/31
Was @DerSPIEGEL sich fragen müsste: Ob ein (großer) Artikel über Hingst wirklich
nötig war. Die „preisgekrönte“ autobiographische Bloggerin und Gelegenheitsautorin für Medien bewegte sich auf der Grenze von Privatsphäre und Öffentlichkeit. 6/31
Sie war keine Schriftstellerin wie Menasse oder Grass und als Historikerin nicht auf dem Feld der Zeitgeschichte tätig. Ihre Berufstätigkeit hat mit ihrer wissenschaftlichen Qualifikation nichts zu tun. 7/31
Ihre Legenden über ihre Familie wurden wohl hauptsächlich von Leuten rezipiert, die ein Interesse an erbaulichen Geschichten haben. 8/31
Nun heißt es, die Lügen seien in der Welt gewesen und hätten deshalb korrigiert werden müssen. Doch sicher nicht um jeden Preis? Dann aber: mit welchen Mitteln? 9/31
Laut @DerSPIEGEL gab es ein „kleines Team“ von (Privat-)Forschern, das sich auf Hingst-Kritik spezialisierte. Auf direkte Ansprache habe Hingst mit aggressiver Abwehr reagiert, daher habe das Team keine Alternative zum Schritt an die Öffentlichkeit gesehen. 10/31
Wenn es nur um die Korrektur in der Sache ging: Warum veröffentlichte das Team keinen quellenkritischen Text in einem wissenschaftlichen (Online-)Forum? Die Kritik hätte früher oder später auch die Leser des Blogs erreicht, mit oder ohne Printmedien als Zwischenstation. 11/31
Das Team wandte sich an die Presse. Aber nicht an eine Zeitung, die vielleicht einen Artikel über die Sache gebracht hätte. Es wandte sich an den @DerSPIEGEL. Und @DerSPIEGEL brachte einen Artikel über die Person. 12/31
Martin Doerry musste wissen, dass er mit diesem Artikel die soziale Existenz von Marie Sophie Hingst zerstören würde. 13/31
Und er meldet in seinem Artikel Vollzug, als Live-Berichterstatter des eigenen Coups: „In diesem Moment muss Marie Sophie Hingst erkannt haben, dass ihre Parallelwelt nicht länger Bestand haben würde.“ 14/31
Doerry verabredete sich mit Hingst unter dem Vorwand, mit ihr über ihr Buch sprechen zu wollen. Fragen zur Familiengeschichte hatte sie sich verbeten. Doerry wollte sie trotzdem stellen. Die List wird von Kollegen als legitimes Mittel investigativer Recherche verteidigt. 15/31
Aber warum die Fotos? Der Fototermin, für den Hingst den Ort vorschlug, diente keinem dokumentarischen Zweck im Rahmen der Investigation. @DerSPIEGEL engagierte die Fotografin, um den Augenblick der Bloßstellung festzuhalten. 16/31
Drei Fotos veröffentlichte @DerSPIEGEL. Das erste in der „Hausmitteilung“: Doerry steht mit verschränkten Armen neben Hingst, die die Arme hängen lässt: Text: „Bei einem Treffen in Dublin in der vergangenen Woche stellte Doerry die junge Frau erstmals zur Rede.“ 17/31
Mitglieder des Teams hatten Hingst schon vorher zur Rede gestellt. Dafür genügte die schriftliche Kommunikation. 18/31
Das zweite Foto: ein großes Porträt. Das dritte: Doerry und Hingst beim Frühstück, von halb oben aufgenommen. Doerry reicht Hingst mit ernster Miene ein Schriftstück. Die Sekunde der Wahrheit. 19/31
Doerry gibt zu, dass die Hochstapelei „kein Verbrechen“ gewesen sei. Er feuert trotzdem schwerstes moralisches Geschütz ab. „Wer Holocaust-Opfer erfindet, verhöhnt all jene, die wirklich von den Nazis gequält und umgebracht wurden.“ Der Satz ist falsch. 20/31
Erfindung von Holocaust-Opfern als Verhöhnung: Das müsste auch für alle literarischen Fiktionen über den Holocaust gelten. 21/31
Keine Verhöhnung ohne böse Absicht. So makaber das Schwelgen in erfundenen Details ist: Wer sich eine Opferfamiliengeschichte andichtet, will nicht herabsetzen. Das Motiv dürfte fehlgeleitete, überschießende Empathie sein. Man will mitgelitten haben. 22/31
Doerry zur Indien-Story: „Hingst hat sich mit ihren Fantastereien wahrscheinlich als unverwundbar empfunden. Wer sollte ihr schon nachweisen können, dass es das alles nicht gab?“ Sie war promovierte Historikerin und muss gewusst haben, wie einfach der Nachweis war. 23/31
Im Stil von @DerSPIEGEL könnte man vermuten: Als unverwundbar empfindet sich in dieser Sache wahrscheinlich nur @DerSPIEGEL. 24/31
Nach dem Treffen in Dublin versuchte Hingst verzweifelt, ihr Gesicht zu wahren und ihre Existenz zu retten, mit Ausflüchten, die für jedermann durchschaubar waren und die auch andere in ihrer Lage ergriffen hätten. Juristische Hilfe eingeschlossen. 25/31
Das Wort „Schachzug“ übertreibt die Rationalität ihres Handelns. Sie war schon mattgesetzt. 26/31
Im letzten Absatz gewinnt Doerry dem Fall eine allgemeine Lektion ab. „Die Archivare in Jerusalem dürften erst einmal mit Kopfschütteln reagieren. Da bringen die Deutschen schon sechs Millionen Juden um. Und dann erfinden sie auch noch 22 Opfer hinzu.“ 27/31
Diese imaginäre Szene ist ebenso schlecht erfunden wie Hingsts kitschige Erzählungen vom Kaffeeklatsch der Überlebenden bei der Großmutter. 28/31
Die Archivare werden nicht verwundert den Kopf schütteln, weil ihnen das Phänomen der erlogenen Opfer-Biographien aus ihrer Arbeit vertraut ist. 29/31
Und bei der Erklärung dieses pathologischen Verhaltens werden sie sich vor simpler Nationalpsychologie à la Doerry hüten. 30/31
Indem Martin Doerry Marie Sophie Hingst zur typischen Deutschen stilisierte, erlaubte er sich, von den mutmaßlichen psychischen Problemen abzusehen, mit denen Hingst allein war. 31/31
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