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Auch schlimm an Armut ist, dass sie selbst dann nicht endet, wenn sie endet. #Thread
Ich habe gut 10 Jahre lang prekär gelebt. Jetzt arbeite ich seit 4,5 Monaten Vollzeit. Ich verdiene nicht besonders (all meine Kollegen jammern sogar praktisch nonstop), aber ich habe trotzdem ein paar hundert Euro mehr als vorher.

Aber das kommt gefühlsmäßig bei mir nicht an.
Wenn man so lange mit so wenig ausgekommen ist, sind "ein paar hundert Euro mehr" ein Unterschied wie Tag und Nacht. Davor war jede unerwartete Ausgabe eine Katastrophe. Nun ist da plötzlich Sicherheit. Zumindest theoretisch. In der Realität sieht es dagegen so aus:
Meine Handflächen schwitzen, noch bevor die Seite meiner Bank fertig geladen ist. Ich kriege Herzrasen, wenn ich meinen Kontostand ansehe. Mein Bauch tut weh, mein Kopf pocht. Klassische Angstsymptome. Dabei habe ich gar keinen Grund dafür. Jedenfalls nicht wegen Geld.
Vorgestern hatte ich einen beschissenen Tag. Ich wollte mir was gönnen und hatte eh keine Zeit zum Einkaufen, also habe ich mir eine Pizza bestellt. Resultat: rasender Puls, kaum das die Bestellung raus war - weil sowas früher ein riesiges Loch in meine Kasse gerissen hat.
Dazu der hämmernde Gedanke: "Wieso hast du das jetzt gemacht??? Jetzt hast du mal ein BISSCHEN Geld übrig und schmeißt es direkt zum Fenster raus!!! Warum bist du so leichtsinnig??? Warum hast du es nicht für was sinnvolles gespart???"
Dabei ist das Quatsch. Ich KANN mir eine Pizza leisten. Das weiß ich. Aber ich FÜHLE ES NICHT. Ich fühle es verdammt noch mal nicht.
Das Ende vom Lied war, dass ich heulen musste, weil mich dieses Gedankenchaos so belastet hat und ich das einfach nicht verstehe. Was bringt finanzielle Sicherheit, wenn man sie nicht fühlt? Wieso fühle ich es nicht? Wieso steckt mein Kopf fest und kommt nicht weiter?
Dazu auch immer wieder dieser Gedanke "Was wäre, wenn...!" Denn auch diese Angst werde ich einfach nicht los: Dass mich irgendeine unvorhergesehene Ausgabe treffen könnte, die mir komplett den Boden unter den Füßen wegreißt.
Aber selbst das ist Bullshit. Ich weiß, dass da nichts ist, keine Rechnung, die ich übersehen habe. Und selbst wenn doch, könnte sie mich nicht von jetzt auf gleich in den Ruin treiben. Das war früher anders.
Vor ein paar Tagen habe ich hier gejammert, weil sowohl mein Handy als auch mein Laptop den Geist aufgeben. Das ist scheiße. Aber Tatsache ist: Ich kann mir beides leisten. Ich weiß nicht, wie ich das in nur 4,5 Monaten geschafft habe, aber ich KANN es mir leisten.
Und trotzdem schaffe ich es nicht, mir ein neues Handy zu bestellen, obwohl ich es für die Arbeit brauche. Der Gedanke, dass ich es mir EIGENTLICH JA DOCH NICHT leisten kann, geht einfach nicht weg.
Eine Rolle spielt sicherlich, dass ich immer noch 35.000 Euro Studienkreditschulden mit mir rumschleppe. Aber auch das macht wenig Sinn. Schließlich kann ich zum ersten Mal meine monatlichen Raten bezahlen, ohne dass ich deswegen finanziell total im Arsch bin.
Dazu kommt ein diffuses Gefühl von schlechten Gewissen. DAS kann ich mir noch am wenigsten erklären. Wenn ich meinen Kontostand sehe, denke ich nicht "Das haste verdient, du hast ja auch schwer geschuftet", sondern... kA. Als hätte ich es geklaut. Als hätte ich kein Recht darauf.
Auch jetzt in diesem Moment fühle ich mich einfach nur beschissen. Ich habe schon eine Millionen sehr persönliche Threads geschrieben, aber noch nie ist mir einer so schwer gefallen. Geld ist aus irgendeinem Grund das schwierigste Thema von allen.
Ich fühle mich schlecht, weil ich weiß, dass es anderen noch schlechter geht als es mir jemals ging. Ich habe Angst, dass Leute glauben, ich würde so tun, als sei meine "gefühlte Armut" schlimmer als tatsächliche Armut. Ich fühle den Drang, mich für alles zu rechtfertigen.
z.B. würde ich gerne klarstellen, dass meine Ansprüche an Handy+Laptop sehr gering sind und ich für beides zusammen weniger auszugeben gedenke als die meisten andere für eine dieser Dinge. Nur, damit niemand falsche Vorstellungen von meinem *Reichtum* hat. Als wär das wichtig.
Es ist die gleiche Angst, die mich immer wieder überkommt, wenn ich meinen Spendenlink poste, weil es da IMMER irgendjemanden gibt, der deswegen höhnt. Als würde ich die Leute zwingen, mir ne Tasse Kaffee zu spenden für Dinge, in die ich Arbeit gesteckt habe.
Oder dass mir irgendjemand vorwirft, alles zu faken, weil ich immer von meinen Reisen twittere. Dass ich mir dafür jahrelang keine Klamotten kaufe oder nie ausgehe oder ü1000km nach fucking Spanien trampe, weil ich mir den Zug nicht leisten kann, interessiert ja nicht.
(Die traurige Tatsache ist, dass ich mir ohne Spenden nichts davon hätte leisten können. Aber wieso erzähle ich das überhaupt. Wieso rechtfertige ich mich vor Menschen, die einem die Butter auf dem Brot nicht gönnen.)
Ich könnte Stunden so weitermachen. Wie ihr seht, rechtfertige ich mich doch, weil ich mich gerade unfassbar angreifbar mache. Aber trotzdem. Ich denke, was ich eigentlich (laienhaft) sagen will ist:
Wenn man Angst hat, obwohl das, was einem Angst macht, eigentlich weg ist, spricht man von einem Trauma. Armut ist traumatisch und gibt einem einfach ein Scheißgefühl, noch lange nachdem man sie überwunden hat.
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