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Warum (Sek2-)#Frontalunterricht oft nicht das Geringste mit echtem Lernen zu tun hat: #Thread ⬇️⬇️⬇️

#Twitterlehrerzimmer #Lehrerleben #ZeitgemäßesLernen (1/23)
Diese Woche gab ich meinem 12er-Deutsch-LK als Hausaufgabe einen wissenschaftlichen Sachtext zu lesen.

Darin geht es um verschwurbelte Sprachphilosophie. NRW-weit abiturrelevant, aber ehrlich:

Ich wette, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht schlau daraus würde 🤷🏼‍♂️ (2/23)
Zum Anfang der Stunde fragte ich, wie die S*uS mit dem Text zurechtkamen.

Kennt jeder aus seiner eigenen Schulzeit:
Stummes Nicken, „Joa, ging wohl...“, beschwichtigendes Schulterzucken - Reaktionen eben, als hätte ich nach dem letzten „Tatort“ gefragt. (3/23)
(Hier hätte ich normalerweise mitgenickt, mich zur Tafel geschwungen und vermittels des üblichen Frage-Antwort-Spielchens ein dreifarbiges Tafelbildchen mit mehr Pfeilen als in jedem Winnetou-Film zusammengeschmiert.

Kennste, wa? (4/23))
Aber ich wollte von JEDEM einen Eindruck hören.

Eine mutige Schülerin: „Herr Q., ganz ehrlich? Ich habe den Text markiert, mir Notizen gemacht, zwei, drei Wörter gegoogelt... Ich könnte Ihnen nicht sagen, worum es so wirklich geht 🤷🏼‍♀️“

Und dann platzte der Knoten:
(5/23)
„Ich habe es eine halbe Stunde versucht, dann habe ich meinen Zettel zusammengeknüllt und es aus dem Abi-Teacher abgeschrieben 😑“

„Ich habe den Text gegoogelt. Was ich verstanden habe, sah der Internetseite nicht ähnlich...“

„Ich fand sogar Wikipedia zu abgehoben!“ (6/23)
FAZIT A:
Der Kurs ist beileibe nicht schwach und ausnahmslos alle hatten Zeit investiert und einen markierten Text vor sich.

Hätte ich bei der Nickerei am Anfang nicht nachgehakt, hätten wir ein fantastisches Tafelbild gezaubert, ohne dass irgendwer was verstanden hat... (7/23)
FAZIT B:
Dabei hätten besonders diejenigen geglänzt, die den Text schnell weggelegt haben.

Der Wikipedia-Artikel zu der Theorie ist genau so sperrig wie der Sachtext (Akademiker-Popanz-Level over 9000).
Der Abi-Teacher liefert dagegen sogar passende Zitate... (8/23)
Ich frage die S*uS, was den Text so unzugänglich macht. Es meldet sich fast der ganze Kurs:

„Dieser Sachtext hat keine Einleitung! Ist sowas wissenschaftlich?!“

„Der Autor greift nichts nochmal auf. Da fehlt der rote Faden!“ (9/23)
„Sogar total einfache Sachen sind übertrieben kompliziert ausgedrückt!“

usw. usf.

Das Schlimme:
Sie hatten völlig recht.

Auch als jemand der verschwurbelte Philosophen-Texte gewohnt ist: Der Text ist sperrig und mies geschrieben. Sorry 🤷🏼‍♂️ (10/23)
FAZIT C:
S*uS können oft sehr genau benennen, was ihnen Schwierigkeiten bereitet und Texte teils legitim kritisieren.

Sie suchen den Fehler aber eher bei sich („Warum verstehe ICH den Stoff™ nicht?“) oder suchen Vermeidungsstategien („Abi-Teacher“). (11/23)
FAZIT D:
Das alles (Textprobleme, Abgleich mit Wikipedia und anderen Quellen, ...) bekommt man als Lehrer meistens nicht mit.

Man muss ja vorankommen und schnell das Tafelbild schmieren. Ob der Text schwer war, darüber spricht man am Ende. Wenn noch Zeit ist... (12/23)
Wie also weitermachen?

Natürlich schlugen mehrere vor, doch nun bitte das Tafelschmieren zu beginnen. Dabei lösen sich doch sicher alle Probleme.

Zum Glück legten da S*uS (und nicht ich) ein Veto ein:
„Dann können wir es beim nächsten Text auch nicht besser🙄“ (13/23)
EIGENTLICH (!), schlug ein Schüler (wieder: zum Glück nicht ich...) vor, müsste man den mittleren Absatz Satz für Satz, Zeile für Zeile (O-Ton) „übersetzen“.

Schlucken im Raum😐
Besorgniserregendes Lächeln des Paukers😬

Ja, EIGENTLICH müsste man das... (14/23)
(Sidenote: Eine Schülerin fügte hinzu, dass v.a. eine digitale Text-Version ihr helfen würde, weil sie dann die unendlichen Bandwurmsätze wie in Latein aufteilen/umformatieren und unnötige Fremdwörter direkt übersetzen könnte)
Wir verhandelten. Im Prinzip blieb es aber dabei:

▫️Die S*uS quälten sich Satz für Satz durch den Mittelteil und schrieben sich eine individuelle „Übersetzung“.
▫️Sie arbeiteten in Gruppen zusammen, um Sätze im aktiven Gespräch aufzudröseln und Wörter zu googeln. (15/23)
▫️Ich durfte jederzeit als „Joker“ (nicht der Böse aus Batman) genutzt werden (Kontrolle einzelner Sätze, Ideen reingeben, bei mehrdeutigen Wörtern Hinweise geben - also Deutschlehrer-Kerngeschäft). (16/23)
▫️Wer so gar keinen Zugang zum Text fand, durfte sich außerdem bei der Schülerin mit dem Abi-Teacher die (mutmaßliche) Kernthese durchlesen, um einen groben Zugang zu bekommen, wo der Hase überhaupt langläuft... (17/23)
Und da waren wir beim Lernen angekommen:

Sich einen Text zu eigen machen, ein Problem lösen (und es auch lösen wollen), sich aktiv austauschen (nicht berieseln lassen) und diskutieren, wie man etwas verstanden hat...

open.spotify.com/episode/4MIyon… (18/23)
Das Ganze dauerte 45 Minuten.

Feedback der S*uS:
▫️Das Übersetzen sei unheimlich anstrengend und erschöpfend gewesen.
UND
▫️Wir mögen das jetzt doch bitte öfter machen 😬 (19/23)
FAZIT E:
Wäre ich bei meinem Plan A geblieben (Text als HA, dann Tafel-Karaoke), hätten die S*uS in puncto Text-/Lesekompetenz gar nichts mitgenommen.

Sie hätten als Stichwortgeber geholfen, MEIN (nicht ihr) Konzept des Textes an die Tafel zu bringen (20/23)
FAZIT F:
Vielen S*uS ist es wichtig zu lernen, wie sie selbst, vom Lehrer unabhängig, mündig einen Text „knacken“ können (Kant und Montessori lassen grüßen!)

Ebenso viele wollen lieber den Quiz-Master mit „der Lösung“ an der Tafel. (21/23)
FAZIT G:
Unserem Bildungsideal nach (selbstständige, kompetente Menschen), müssten wir solches „betreutes Selbstlesen“ viel öfter veranstalten.

Wir müssen uns aber eher auf den heiligen Stoff™ konzentrieren (Schnell an die Tafel! Lehrplan! Keine Zeit! Nächstes Thema!) (22/23)
FAZIT H:
#Frontalunterricht ist oftmals organisierter Selbstbetrug.

Ganz ehrlich?

Hätte ich mich einfach vor die Tafel gestellt und losgelegt, hätte das schon irgendwie funktioniert🤷🏼‍♂️

Wahrscheinlich hätte ich hinterher noch gemeckert, dass viele nix gesagt haben🤷🏼‍♂️ (23/23)
Disclaimer, weil Twitter:

„aBeR mAn SoLlTe Fr0nTaLuNtErRrIcHt NiChT gEnErElL vErTeUfElN!!11“

Das ist richtig. Ich verteufle Frontalunterricht nicht generell, wie mein ursprünglicher „Plan A“ belegen sollte 😬
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