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Ich höre und lese immer wieder, in Deutschland gäbe es nur eine sehr geringfügige demokratische Tradition.
It is not so (und jeder Nazi hätte es besser wissen können).
(Thread)
Die Behauptung der schwachen deutschen Demokratietradition wurde nach 1945 bes laut- wohl auch, um das eigene Versagen zu entschuldigen. 1 Bsp. dafür findet sich in dem Tondokument eines "Dialogs über den deutschen Wiederaufbau nach 1945" im RIAS 1947:
deutschlandfunkkultur.de/vor-70-jahren-…
Ich will hier einige Beispiele für die deutsche Demokratietradition nennen (die sich in vielem der Tradition anderer westlicher Länder gleicht). Heute: Die Verfassungsfeiern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Wie in zahlreichen anderen deutschen Staaten gab es es in Baden eine Verfassung: in Bayern etwa seit 1818, in Württemberg seit 1819, im Großherzogtum Hessen seit 1820 oder in Sachsen seit 1831. In Baden seit 1817.
Die Verfassungen waren nicht gleichgültig, weil sie das Volk rechtlos hielten (wie oft behauptet wird), vielmehr räumten einige beispielsweise weitreichende Partizipationsrechte ein:
In Württemberg besaßen etwa 14% aller Einwohner das Wahlrecht, in Baden 17%, in den USA lag da die Wahlberechtigung noch im einstelligen Bereich, 1840 war sie bei den Präsidentschaftswahlen auf etwa 17% gestiegen (lag aber bei anderen Wahlen wie Kommunalwahlen höher).
Wobei in diesem Fall besonders gilt: Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen. Im US-Zensus etwa, der den Prozentzahlen zugrunde liegt, waren längst nicht alle Bewohner*innen eingeschlossen.
Zu den frühen Verfassungsfeiern: Süddeutschland gehörte zu jenen europäischen Regionen, in denen sich das Bürgertum besonders stark und selbstbewusst zeigte und seine Regierungen immer wieder zu mehr Gerechtigkeit und Freiheit aufforderte.
Dort entwickelte sich eine Tradition liberaler Verfassungsfeiern in der 1. Hälfte des 19. Jhs. Dazu gehörten Gottesdienste, Freudenfeuer, Umzüge & Festessen.
Die wohl größte dieser Feiern fand im August 1843 statt, als rund 100.000 Badener*innen das 25jährige Jubiläum ihrer Verfassung feierten. Der Journalist Karl Mathy berichtete 1843 ausführlich in einem "aus dem Volke selbst hervorgegangenen Buch" darüber:
archive.org/details/diever…
Aber auch in Sachsen, in der Pfalz od in Bayern trafen sich in den 1840er Jahren Bürger*innen, um ihre Verfassungen zu bejubeln. In Sängerfesten beschworen sie die Freiheit, die Schönheit der Natur & die deutsche Einheit. Das politisierte unter anderen junge Louise Otto(-Peters).
Louise Otto(-Peters) ließ die Politik nicht mehr los, und sie gehört zu den ersten, die das Stimmrecht auch für Frauen forderte. Hier ihr Porträt in einem ehrfürchtigen Artikel von 1881.
(Wie immer weitere wichtige Infos im @DDFArchiv)
digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/lo…
@DDFArchiv Voller Erwartung wurde das bisher Erreichte gepriesen – in den Abgrund seien „die barbarischen Gesetze, die schmählichsten Sklavenjoche“ gesunken. Demokratische Ideen fanden sich in diesen Staaten also schon seit den 1830er Jahren in breiteren Bevölkerungsschichten.
Die berühmte Offenburger Versammlung von 1847 gehört in diese liberale Tradition. Rund 250 Männer versammelten sich, der Saal war geschmückt mit 1 Exemplar der Verfassungsurkunde & Abbildern der Großherzöge. "Selbstregierung des Volkes" & Monarchie galten nicht als Gegensätze.
@DDFArchiv Die berühmte Offenburger Versammlung von 1847 gehört in diese liberale Tradition. Rund 250 Männer versammelten sich, der Saal war geschmückt mit 1 Exemplar der Verfassungsurkunde & Abbildern der Großherzöge. "Selbstregierung des Volkes" & Monarchie galten nicht als Gegensätze.
@DDFArchiv Es gibt eine reiche Literatur über diese demokratischen Traditionen. Besonders empfehlenswert die Arbeiten von
@paulnolteberlin
(zB digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/……), Becht: Badischer Parlamentarismus; B. Wien: Politische Feste u Feiern in Baden 1814–1850.
@Donauschwalbe
arbeitet dazu
@DDFArchiv @paulnolteberlin @Donauschwalbe To be sure: Antidemokratische Traditionen gab es in Deutschland selbstverständlich auch (vgl. etwa die Arbeiten von @birtefoerster: academia.edu/36908766/Mit_K…). Aber die demokratischen, liberalen Kräfte erwiesen sich immer auch als wirkmächtig.
@DDFArchiv @paulnolteberlin @Donauschwalbe @BirteFoerster @gegneranalyse Viel wäre zu sagen u. zu forschen über die religiösen Wurzeln von Demokratie. In Preußen etwa gewannen die partizipativen Traditionen der presbyterial-synodalen Kirchenordnung der Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg an Einfluss, befördert durch liberale Theologen wie #Schleiermacher
@DDFArchiv @paulnolteberlin @Donauschwalbe @BirteFoerster @gegneranalyse Maximilian von Schwerin-Putzar (mein Lieblingsjunker) beförderte 1848 als Minister für geistliche Angelegenheiten
die Einführung einer presbyterial-synodalen Verfassung (also einer nicht von oben gelenkten) für die gesamte Landeskirche, war dafür aber zu kurz im Amt.
@DDFArchiv @paulnolteberlin @Donauschwalbe @BirteFoerster @gegneranalyse Dennoch wuchsen im 19. Jh häufig die Mitbestimmungsmöglichkeiten für protestantische Männer in Kirchengemeinderäten an, gegen Ende des Jhs teilweise auch für Frauen. Da Kirchen einflussreich waren, konnte ein Stimmrecht dort mehr bedeuten als eines für ein fernes Parlament.
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